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Michel Riva ist im August 2012 als CEO bei R&M (Reichle & De-Massari AG) angetreten. Christian Merz

«Wir haben die Komplexität des US-Marktes unterschätzt»

Vor zehn Jahren wurde Michel Riva CEO von R&M. Unter seiner Führung hat sich der Wetziker Spezialist für Verbindungstechnologie neu erfinden müssen. Nicht nur der wachsende Kostendruck liess ihm keine Alternative.

Michel Riva ist im August 2012 als CEO bei R&M (Reichle & De-Massari AG) angetreten. Christian Merz

Veröffentlicht am: 11.08.2022 – 13.18 Uhr

Nirgends wird unser Zeitalter der Beschleunigung so greifbar wie in den Innovationszyklen der Informations- und Kommunikationstechnologie. Die ICT-Branche überbietet sich mit immer schnelleren Übertragungsgeschwindigkeiten, neuen Anwendungen und Lösungen.

Vorne mit dabei ist das Wetziker Unternehmen R&M (Reichle & De-Massari AG). Es entwickelt, produziert und vertreibt Verbindungstechnologie für Kommunikations- und Datennetzwerke.

Seit August 2012 liegt die Führung von R&M in den Händen von CEO Michel Riva. Der gebürtige Basler mit Finanzbackground hat einen tiefgreifenden Reformkurs verfolgt. In den letzten zehn Jahren wurde aus dem zentralistisch geführten Komponentenhersteller ein globaler Systemanbieter.

Sie sind vor zehn Jahren als erster externer CEO bei R&M angetreten. Welche Situation haben Sie damals in Wetzikon vorgefunden?
Michel Riva: Ich kam in einer Umbruchszeit. Der Hauptsitz war damals noch primär das Produktionsgebäude, aber wenige Monate zuvor hatte das Management dort Räumlichkeiten bezogen. Es lag eine Spannung in der Luft: Wer kommt jetzt? Ändert sich die Führungsmethode?

Das tönt nach gemischten Gefühlen.
Es ist für alle Beteiligten eine Umstellung, wenn ein externer Manager die Leitung einer familiengeführten Firma übernimmt. Die Inhaber Martin und Peter Reichle waren damals voll im operativen Geschäft tätig, der eine als CEO, der andere als Produktionsleiter. Mit dem Wechsel in den Verwaltungsrat mussten sie sich in eine neue Rolle einfinden. Das galt auch für mich. Ich war bis dahin Divisionsleiter bei verschiedenen internationalen Firmen gewesen, zuletzt in der Klebstoffindustrie. Bei R&M stand ich nun erstmals einem gesamten Unternehmen vor.

Wie gross war der Respekt vor dem Wechsel in die Informations- und Kommunikationstechnologie?
Ich habe schon früher ein paar Mal die Branche gewechselt. Zuerst war ich in der Pharmaindustrie, dann in den Branchen Verpackungen, Farben und Klebstoffe. Insofern hatte ich eine gewisse Routine darin, mich in neue Themengebiete einzuarbeiten.

Wann waren Sie sattelfest?
Nach drei Monaten hatte ich einen guten Überblick über die wichtigsten Themen und Aufgaben. Aber um diese Industrie im globalen Kontext wirklich zu verstehen und strategische Weichenstellungen vornehmen zu können – dafür benötigte ich zwei Jahre.

Sie sagten, R&M befand sich 2012 in einem Umbruch.
Nicht nur R&M, sondern die ganze Industrie. Die Glasfasertechnologie war im Begriff, die Kupfertechnologie bei der Verkabelung in den Bereichen Telekommunikation und Rechenzentren abzulösen. Anders als Kupfer erfordert Glasfaser viel manuelle Arbeit, um die dünnen Fasern mit den Steckern zu verbinden. Für die gesamte Industrie ist die Konfektion bis heute äusserst personalintensiv. Dies wird dann zu einem Problem, wenn 95 Prozent der Produktion in der Schweiz stattfinden – so wie bei uns damals. Unter dieser Voraussetzung konnten wir nicht wettbewerbsfähig sein.

Haben Sie R&M auf den Glasfaser-Kurs gesetzt?
Uns blieb gar nichts anderes übrig. Alle Wachstumsfelder entwickelten sich in diese Richtung. Wir durften den Anschluss nicht verlieren. Schon vor meinem Antritt als CEO hatte sich das Management für den Aufbau der Geschäftsfelder Rechenzentren und Telekommunikation entschieden. Auch die Verlagerung der Produktion ins Ausland stand fest. Dazu hatte R&M ein Gebäude in Bulgarien gekauft. Es war eine angespannte Situation.

Welche Aufgaben haben Sie als erstes angepackt?
Zunächst ging es darum, ein Glasfaser-Portfolio zu entwickeln. Wir verfügten damals nur über ein paar Komponenten. Dann haben wir die Produktentwicklungen für Rechenzentren und den Telekommunikationsbereich vorangetrieben, um uns in diesen Märkten zu positionieren. Parallel dazu mussten wir die Produkte wettbewerbsfähig machen, indem wir die Produktion dezentralisierten und so die Kosten senkten.

Wie hat sich der Glasfasermarkt seither entwickelt?
Er ist exponentiell gewachsen. Inzwischen findet ein Grossteil der Produktion in Niedriglohnländern statt. Glasfaserkomponenten haben sich zu einer «Commodity», einer standardisierten Handelsware, entwickelt und wurden zum Teil um bis zu 80 Prozent billiger.

Was bewirkte dieser Kostendruck?
Wir haben uns bewusst vom Komponentenhersteller mit Fokus auf Verbindungstechnik zum Systemanbieter gewandelt, um so einen grösseren Teil vom Kuchen zu bekommen und uns besser zu diversifizieren. Heute gehen wir nicht mehr zum Kunden, um über einzelne Stecker zu diskutieren, sondern über Gesamtlösungen.

Dazu passt, dass neu ein italienischer Hersteller von Netzwerkschränken für Rechenzentren zu Ihnen gehört.
Vor drei Jahren haben wir bereits eine chinesische Firma gekauft, die das Gleiche für den asiatischen Markt macht. Zusätzlich integrieren wir auch die Kühlung und Energiesysteme in dieses Angebot. Selbst die Software-Lösungen für die Überwachung im Bereich Rechenzentren stammen inzwischen von unserer eigenen IT-Firma in Serbien. In den letzten Jahren ist unsere Wertschöpfung um einiges komplexer geworden.

Unter Ihrer Führung hat R&M bisher neun Firmen übernommen.
Wir mussten uns international aufstellen. In einigen Regionen hinkten wir zehn bis 15 Jahre hinterher. Es hätte zu lange gedauert, den Rückstand durch einen organischen Aufbau aufzuholen. Später sind wir dazu übergegangen, gezielt Technologien dazuzukaufen, um unseren Systemansatz zu erweitern.

Wie stark hat sich die Organisation dadurch verändert?
Die Internationalisierung war der grösste Wandel überhaupt. Bis dahin hatten wir einige Vertriebsorganisationen im Ausland und sonst alles in Wetzikon zentralisiert. Heute operieren wir weitgehend dezentral. Den Auftakt dazu bildete die Produktion in Bulgarien, wo wir schon einen Vertrieb hatten. Zunächst war das eine verlängerte Werkbank. Heute findet dort ein grosser Teil des Produktionsmanagements statt. Zudem gibt es ein globales Entwicklungszentrum sowie Marketing und IT-Funktionen. Dadurch änderte sich die Funktion der Zentrale. Wir leiten hier in Wetzikon das Netzwerk, die Prozesse und die Guidelines, während bereits viele Entscheidungen an den regionalen Standorten gefällt werden.

R&M ist erheblich gewachsen.
Als ich anfing, waren wir um die 600 Mitarbeitende mit zwei Werken und einem Umsatz von 175 Millionen Franken. Letztes Jahr haben wir 270 Millionen Franken Umsatz gemacht. Wir beschäftigen 1800 Mitarbeitende in weltweit 14 Werken. Neben dem angestammten Sortiment und neu den Netzwerkschränken produzieren wir inzwischen auch eigene Kabel.

War eine solche Entwicklung zu erwarten?
Dass die Komplexität der Firma derart zunehmen würde, hätte ich mir 2012 nicht träumen lassen. Aber als reiner Komponentenhersteller wären wir heute nicht mehr überlebensfähig. Der Druck auf die Preise ist so gross, dass man als Schweizer Firma nur noch über den Systemansatz Geld verdienen kann.

Mit welchen Folgen für die Firmenkultur?
Vor sechs, sieben Jahren haben wir viel in die interkulturelle Zusammenarbeit investiert – nicht nur für den Umgang innerhalb der Firma, sondern auch mit den Zulieferern. Früher sassen die meisten von ihnen in der Schweiz und Deutschland. Heute haben wir viele Zulieferer in Asien und Osteuropa. Es macht einen Unterschied, ob man mit einem Schweizer Zulieferer zusammenarbeitet oder mit einem aus Asien.

Vor fünf Jahren sagten Sie uns, dass R&M oft der «Underdog» sei. Gilt dies noch?
Das Wort war etwas unglücklich gewählt. Damals sind wir in viele Märkte neu eingestiegen und mussten die Prozesse neu ausrichten. Bei der Kupfertechnologie konnten wir die Module und Stecker noch auf Lager fertigen und dann im Ausland vertreiben. In der Glasfasertechnologie müssen wir die Produkte dagegen exakt auf den Kunden zuschneiden. Im Telekombereich ist oftmals der Bau von Prototypen erforderlich. Dies setzt eine gewisse Dezentralität voraus. In jenen Jahren haben wir in Indien und anderen Ländern ein Werk eröffnet und sind dann in die jeweiligen Segmente hineingegangen. Dort waren wir zunächst unbekannt.

Und heute?
Wenn ich heute in Indien oder den USA an eine Fachmesse gehe, kennt man uns. Wir sind ein global anerkannter Akteur, auch wenn wir nicht in derselben Liga spielen wie die grossen Konzerne in den USA mit Milliardenumsätzen. Dafür sind wir schneller und flexibler.

Der US-Markt ist milliardenschwer. Bisher setzen Sie dort nur 20 Millionen Franken jährlich um. Warum?
Es ist durchaus mehr Wachstum geplant, aber wir sind in den USA mit einer anderen Marksituation konfrontiert als etwa in Europa. Wir müssen uns teilweise an andere Produkte und Normen, aber auch an eine andere Patentsituation anpassen.

Haben Sie ein Beispiel?
In den USA sind Patente oft sehr breit gehalten. So kann man beispielsweise die Dichte eines Panels für Netzwerkschränke patentieren lassen. Vor zwei Jahren ist ein solches Patent im Bereich Rechenzentren durchgekommen. Teilweise konnten wir unsere Produkte an die neue Patentsituation anpassen, teilweise aber auch nicht. Wir haben uns daher entschieden, die Markbearbeitung in den USA verstärkt auf die Bereiche Telekommunikation und Gebäudeverkabelung zu verlagern. Das hat uns ein Jahr gekostet.

Sind Sie den Markteintritt in den USA zu naiv angegangen?
Wir waren vielleicht zu weit weg und haben die Komplexität des Marktes unterschätzt. Ein Patentstreit ist immer teuer. Aber in den USA überlegt man sich zweimal, ob man mit einem Konzern, der zwei bis drei Milliarden Franken umsetzt, einen solchen Streit austragen will. (lacht)

Was war rückblickend schwieriger: die Dezentralisierung und Internationalisierung von R&M oder die Bewältigung der Pandemie?
Beides war herausfordernd, aber auf unterschiedliche Weise. Bei der Neuausrichtung der Firma ging es um die Lösung eines strukturellen Problems, das sich durch die Eurokursentwicklung ab 2015 noch verschärft hatte. Wegen des steigenden Kostendrucks war dieser Prozess unvermeidlich. Dies macht es aber nicht leichter, wenn man Leute entlassen und eine Firma international ausrichten muss.

Und die Pandemie?
Wir sind relativ gut durch die Coronakrise gekommen – auch mit Unterstützung der jeweiligen Länderregierungen. Die Lieferschwierigkeiten traten überwiegend bei unseren Zulieferern auf. Zum Glück verlängerten sich die Lieferzeiten nur um etwa zwei bis sechs Monate. Trotzdem hat uns das Krisenmanagement mit der anhaltenden Unsicherheit einiges abverlangt.

Vor welchen Herausforderungen steht R&M aktuell?
Der Industrie geht es nicht schlecht. Wir selbst sind im ersten Halbjahr zweistellig gewachsen. Aber der Ukraine-Krieg, der Konflikt in Taiwan und die drastische Covid-Politik in China bereiten uns grosse Sorgen. Dazu kommt die Energiekrise, von der wir alle nicht wissen, wie schlimm sie wird. Teilweise kündigt sich eine Rezession an, etwa bei Verkabelungslösungen im Gebäude. In einigen Regionen sind die Auftragseingänge wegen der Unsicherheiten leicht rückläufig. Das nächste Jahr wird für R&M wieder recht sportlich.

Welche Relevanz hat Taiwan für Ihre Firma?
Wir haben Zulieferer dort, aber als Absatzmarkt ist Taiwan für uns unbedeutend. Sollte es jedoch zu einem Krieg kommen und würden dann Sanktionen gegen China ergriffen – das hätte eine andere Dimension als die Sanktionen gegen Russland, nicht nur für uns, sondern für alle Branchen.

Wie steht R&M in China da?
Wir haben zwei Produktionen, die ausschliesslich für den chinesischen Markt arbeiten. In diesem Bereich wären die Folgen verkraftbar. Aber durch die Vielzahl an Zulieferern, die sich in China befinden, sind wir wie alle Industriefirmen stark von der Volksrepublik abhängig. Diese Abhängigkeit müssen wir reduzieren, indem wir vermehrt Zulieferer in Indien und anderen Regionen suchen.

Daran arbeiten Sie gerade?
Ja, aber das geht nicht über Nacht. Was China so attraktiv macht, ist das Vorhandensein von Zulieferer-Clustern. Wer seine Produkte spritzen lassen will, findet in direkter Nähe die passende Chemie-Basis und entsprechende Fachkräfte, um dies zu realisieren. In anderen Regionen fehlen solche Cluster. Sie aufzubauen, braucht Zeit.

Wie 2012 stecken Sie also wieder mitten in einem Wandel.
Letztlich muss die Industrie insgesamt ihre Abhängigkeit von China reduzieren. Für R&M stehen aber ganz spezifische Themen auf der Agenda – zuvorderst der neue Mobilfunkstandard 5G, der die Verkabelungsindustrie stark beeinflussen wird. Wir entwickeln entsprechende Produkte, um in diesem Markt Fuss zu fassen. Zudem müssen wir unsere Position als Systemanbieter im Bereich Rechenzentren festigen. In den nächsten fünf Jahren wird es darum gehen, unsere Gesamtlösungen für diesen Markt nachhaltig zu etablieren und näher an die Kunden zu bringen. Gleichzeitig müssen wir uns an die neue Konkurrenzlandschaft anpassen, die durch den Systemansatz entstanden ist.

Wollen Sie diese Aufgaben weiter als CEO verantworten?
Absolut.

Haben Sie denn nach zehn Jahren keine Lust auf Veränderung?
Die Arbeit für R&M ist der beste Job, den ich je gemacht habe. Ich sage nicht, dass mir immer alles Spass gemacht hätte. Aber der Aufbau eines neuen Segments, die Internationalisierung der Firma und die Bewältigung der jüngsten Krisen haben keine Routine aufkommen lassen. Was kann man sich als Manager Besseres wünschen?


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