«Die haben wahrscheinlich alle Locken und tragen eine Kippa», sagt ein etwa 12-Jähriger Hinwiler in die Kamera. Ein Vorurteil, dem Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), auch im Alltag regelmässig begegnet. «Dieses Bild eines streng orthodoxen Juden tragen wohl viele Menschen mit sich herum.»
Judenfeindliche Übergriffe haben in den letzten Jahren zugenommen. So scheinen die Schatten der Vergangenheit zumindest die Deutsche Zivilgesellschaft rechts überholt zu haben. Im Frühjahr ging ein Video viral, das einen Araber zeigt, der einen Kippa-Träger in Berlin mit einem Gürtel attackiert. Ein schockierendes Zeugnis von Antisemitismus.
Die Zahl der Vorfälle ist über die letzten Jahren in der Schweiz in etwa gleich geblieben, allerdings nehmen antisemitische Äusserungen im Internet zu (siehe Box). Das Problem ist allerdings ungleich kleiner als in Deutschland. Trotzdem zeigen rund 12 Prozent der befragten Schweizer gemäss einer Studie des Bundesamtes für Statistik feindliche oder negative Einstellungen gegenüber Juden.
«Duschen vor dem Sprung in den Pool»
Kaum ein Jahr ist es her, dass in einem Hotel in Arosa auf einem Zettel jüdische Gäste dazu aufgefordert wurden, vor dem Sprung in den Pool zu duschen. Dieser Vorfall machte über die Landesgrenzen hinaus Schlagzeilen. «Das ist ein Extrembeispiel. Es zeigt aber, wie stark Unwissen über die Juden in der Gesellschaft verbreitet sind. Man muss aber zwischen Unwissen und Bösartigkeit unterscheiden», sagt SIG-Generalsekretär Kreutner.
Seit 16 Jahren bietet der SIG nun ein Dialog-Programm für Jugendliche und Erwachsene an und er hat es an der Hinwiler Oberstufe «Breite» filmisch dokumentiert.
Eine 18-Jährige sitzt in einem Stuhlkreis mit zwei Dutzend Jugendlichen im himmelblauen Singsaal der Oberstufe «Breite» und sagt: «Es gibt heute keine Tabus.» Ein Leitsatz, den sich der SIG mit seinem «Likrat-Programm» auf die Fahne geschrieben hat. Jüdische Jugendliche besuchen Gleichaltrige und sprechen mit ihnen über ihr Jüdisch-Sein. Frech und unverblümt.
Die Kurz-Dokumentation aus Hinwil
Die Likrat-Begegnung des Schweizerisch Israelitischen Gemeindebundes wurde in der Hinwiler Oberstufe Breite aufgezeichnet. (Quelle: Youtube/SIG)
«Likrat» bedeutet auf Hebräisch «aufeinander zu». Genau das schätzt Christoph Messmer, Schulleiter an der Oberstufe «Breite» in Hinwil, am Dialog-Programm des SIG. Die Schule nimmt bereits seit einigen Jahren daran teil.
«Unser Ziel ist es den interkulturellen Dialog im Religions- und Kulturunterricht zu leben», sagt Messmer. Neben dem Likrat-Dialog sind die Hinwiler Oberstufen-Schulklassen auch regelmässig in Klöstern, Moscheen oder Buddhisten-Tempeln zu Gast.
Warum Hinwil?
Das Thema Antisemitsimus ist auf dem Hinwiler Pausenplatz allerdings kein Thema. Im Religionsunterricht wird vor allem das orthodoxe Judentum vorgestellt, im Alltag der Jugendlichen gibt es mit Juden aber kaum Berührungspunkte. «Auch deshalb ist Hinwil typisch für die Schweiz. Es ist kein Bergdorf und auch keine Stadt, sondern ein guter Querschnitt der Schweizer Gesellschaft», sagt Kreutner. Im Zürcher Oberland gibt es keine jüdische Glaubensgemeinschaft. Entsprechend haben wohl die wenigsten Hinwiler Jugendlichen schon mal einen Juden gesehen.
«Finden sie es streng als Jüdin?», fragt ein Jugendlicher in der Hinwiler Runde. Ein weiterer will wissen, ob sie an Feiertagen den ganzen Tag das Handy abstellt. Tut sie, für viele Jugendliche unvorstellbar. Immer wieder schiessen Hände in die Höhe, die Hinwiler Oberstufen-Schüler sind richtig neugierig.
Für den SIG ist es deshalb wichtig, mit «Likrat» in Gemeinden wie Hinwil präsent zu sein, erklärt Kreutner. «Besonders wenn wir etwas nicht kennen, neigen wir Menschen zu Vorurteilen, weil wir es nicht besser wissen.» Das Programm wird mittlerweile auch in anderen Ländern umgesetzt. Zudem wurde es nach dem Vorfall in Arosa vermehrt auch auf Erwachsene und den Tourismus-Bereich ausgedehnt.
Auf Augenhöhe
Die jüdischen Jugendlichen, die die Schulen besuchen, werden vorgängig geschult, damit sie auch heikle und unangenehme Fragen beantworten können. «Die Jugendlichen sprechen mit den Gleichaltrigen auf Augenhöhe. Es entsteht ein Vertrauensverhältnis», sagt Messmer.
Darin sieht er die Stärke des Programms. «Oftmals ist es bei anderen Religionsgemeinschaften mehr ein Besuch als ein Dialog. Ich kann diese Art der Auseinandersetzung für alle Schulen und Religionsgemeinschaften weiterempfehlen.»

Die Jugendlichen sollen sich auf Augenhöhe begegnen und auch schwierige Themen ansprechen. Die Schüler können sich hebräische Schriften anschauen oder auch einfach mal eine Kippa aufsetzen. (Foto: Screenshot/Youtube.com/SIG)
Gerade deshalb wollten die Hinwiler den SIG unterstützen und Messmer hat den Verantwortlichen erlaubt, die Likrat-Begegnung in Hinwil dokumentarisch festzuhalten. «Es ist eine gute Sache, aber Hinwil ist vermutlich eher eine zufällige Wahl», sagt Messmer.
Für Kreutner ist es wichtig, die in der Gesellschaft verankerten Vorurteile möglichst früh aufzubrechen. «Unter Juden spielen Tradition und Identität auch bei Jüngeren eine grössere Rolle. Viele bekennen sich eher zu ihrem Jüdisch-Sein, obwohl sie nicht religiös sind.Das ist unter Christen vielleicht etwas weniger der Fall.»
Umso wichtiger sei es zwischen den Jugendlichen mit unterschiedlichen religösen Hintergründen zu vermitteln, die Gemeinsamkeiten zu betonen und das Verständnis für einander zu fördern.
Genau das ist die Erfahrung, die auch die Hinwiler Jugendlichen in der Likrat-Begegnung und im Film machen. Statt einem stereotypen orthodoxen Juden sitzt eine junge Frau vor ihnen, die genauso aussieht wie sie selbst. Messmer sagt: «Das zeigt wohl am besten, dass das Fremde meist gar nicht so fremd ist.»
Am Freitag, 22. Juni, um 11 Uhr wird die Kurz-Dokumentation im Beisein von Vertretern der Bildungsdirektion in der Breite Hinwil gezeigt.
Antisemitismus in der Schweiz
Die Zahl der antisemitischen Übergriffe ist im Vergleich zum Vorjahr 2017 wieder angestiegen. Dies zeigen Zahlen des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG). 39 Vorfälle ausserhalb des Internets wurden dokumentiert. Die Zahlen schwanken allerdings stark. Das kann allerdings auch darauf zurückzuführen sein, dass gemäss einer Studie der Agency for Fundamental Rights (FRA) der Europäischen Union über 70 Prozent der antisemitischen Vorfälle nicht gemeldet werden.
In der Tendenz bleiben die Zahlen in etwa gleich. Einen deutlichen Anstieg der antisemitischen Vorfälle beobachtet der SIG aber in den Sozialen Netzwerken wie Facebook. Dort finden Anfeindungen gegen Juden auch vermehrt mit Klarnamen statt. Im letzten Jahr hat der SIG 90 Vorfälle registriert. Diese Tendenz betrachte man mit grosser Sorge. (mae)
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