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Foto: PD/Pixabay.

Ungerechtfertigter Generalverdacht

Standpunkt-Autor Werner Knecht schreibt über digitale Medien und deren Einfluss auf den Konsum von Nachrichten.

Foto: PD/Pixabay.

Veröffentlicht am: 27.03.2021 – 10.00 Uhr

Es gehört heute zum guten Ton, die sozialen Medien und Suchmaschinen in Bausch und Bogen zu verdammen und ihnen eine Mitschuld zu unterstellen am gehässiger werdenden Diskussionsklima. Gehören sie also zu den Hauptverantwortlichen für die überhand nehmenden Filterblasen, für fragwürdige Echokammern im Internet und damit den Tunnelblick?

Niemand bezweifelt, dass der bedenken- und gedankenlose Massenkonsum digitaler Medien die Meinungsbildung beeinflusst, zumal die hochsensiblen algorithmischen Filter den Nutzerinnen und Nutzern nur jene Informationen anzeigen, die ihrem Weltbild, ihren Interessen und Neigungen entsprechen. Dies zumindest das undifferenzierte Vorurteil.

Doch nun kommt aus berufener Warte Entwarnung, denn gemäss einer aktuellen Studie handelt es sich um falsche Schlussfolgerungen. So belegen Forscher der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), der Universität Hohenheim und GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Köln anhand einer breit angelegten Feldstudie, dass die Nutzung von Facebook, Twitter, Google oder Portalen wie GMX zu mehr Besuchen von Nachrichtenseiten und einer grösseren Vielfalt besuchter Nachrichtenseiten führt. Dazu wurde das Web-Browsing-Verhalten von über 5000 deutschen Internetnutzern gemessen und bewertet. Und siehe da: Das gängige Vorurteil entbehrt jeder Grundlage.

Gerade das Gegenteil scheint zuzutreffen, denn intermediäre Plattformen scheinen den Blick gar zu weiten und eine differenziertere Sicht zu begünstigen. « Wer Facebook oder Google besucht, kommt mit einer grösseren Wahrscheinlichkeit mit Nachrichten in Kontakt. Die Nutzung dieser Intermediäre ist daher ein wichtiger Mechanismus für den Konsum von Nachrichten im Internet » , kommentiert Frank Mangold von der Universität Hohenheim.

Er und das Forscherteam begründen und erklären dies mit dem  zufälligen Konsum von Nachrichten. Denn in traditionellen Medien wie Zeitungen und Fernsehen werden oft nur jene Nachrichten betrachtet, die man bewusst auswählt. Auf intermediären Plattformen hingegen kommen die Menschen auch zufällig und ungewollt mit News in Berührung, wenn ihre Kontakte Nachrichteninhalte teilen oder wenn beim Abrufen von Mails interessante Artikel erscheinen.

Bisherige Debatten hätten sich in vielerlei Hinsicht um die Befürchtung gedreht, dass Online-Medien zur Entstehung neuer Mauern in der Gesellschaft führten, kommentiert JGU-Professor Michael Scharkow die Verhaltensanalyse. Doch die Ergebnisse zeigten demgegenüber das Potenzial zur Überwindung bestehender Mauern. Bisherige Studien belegten, dass der Zugang zu den Nachrichtenquellen zum Teil zufällig, zum Teil aber auch durchaus bewusst passiert. Manche Nutzerinnen und Nutzer besuchten eben Facebook, Twitter und Co. mit dem Ziel, dort Nachrichten zu konsumieren.

Dieses Abgrenzungsproblem wurde dadurch gelöst, indem die Forscher ein statistisches Modell über die erwartete Nachrichtennutzung pro Tag errechneten; so liess sich der zufällige beziehungsweise ungeplante Kontakt mit Nachrichten isolieren. Dabei zeigte sich unabhängig davon, ob ein Nutzer normalerweise viel oder wenig Online-Nachrichten konsumiert, folgendes Resultat: An Tagen, an denen jemand mehr auf Facebook, Twitter oder Google unterwegs ist, bekommt er auch mehr Nachrichten und solche aus mehr Quellen zu sehen als sonst, resümiert das Forscherteam.

Möglicherweise könnte man mittels Algorithmen die sogenannte Kantendetektion auch im übertragenen Sinn anwenden, nämlich bezüglich Anteils der Netzwerk- und Suchmaschinen bei der Informationsvermittlung. Die Kantendetektion ermöglicht die Segmentierung von Elementen in der Bildverarbeitung – weshalb nicht auch bei der Abgrenzung respektive Quantifizierung des Informationsflusses? Was entfällt tatsächlich auf Netzwerke und Suchmaschinen? Lässt sich überhaupt ein Grenzverlauf nachweisen?

Die Unmengen unstrukturierter und semistrukturierter Daten, die von Netzwerken und Suchmaschinen wie auch von Medienkonsumenten gesammelt, gespeichert, analysiert und ausgewertet werden, liessen sich dadurch wissenschaftlich exakt erfassen und interpretieren. Erst wenn die Kontextualisierung gelingt und befriedigende Antworten liefert, löst sich der Nebel um die unter Generalverdacht geratenen intermediären Plattformen auf. Entlassen wir sie also aus der Vorbeugehaft. (Werner Knecht)

Zur Person

Werner Knecht wohnt in Wetzikon und war langjähriger Chefredaktor der Coopzeitung und Dozent für Kommunikationswissenschaften. Er arbeitet als Publizist, Ghostwriter und Journalist für mehrere grosse Medientitel.


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