nach oben

Anzeige

Mithilfe von Antikörper-Bluttests können Fachleute die Sars-CoV-2-Durchseuchungsrate einer Bevölkerungsgruppe bestimmen. Foto: Keystone

Sieben unbequeme Fragen zu Corona

Herdenimmunität, Sterberisiko, Impfung? Infektiologe Pietro Vernazza hat die ganz grossen Themen angesprochen und eine heftige Debatte ausgelöst. Wir zeigen, was der aktuelle Forschungsstand ist.

Mithilfe von Antikörper-Bluttests können Fachleute die Sars-CoV-2-Durchseuchungsrate einer Bevölkerungsgruppe bestimmen. Foto: Keystone

Veröffentlicht am: 22.07.2020 – 11.47 Uhr

1. Ist das Risiko, an einer Infektion mit dem Coronavirus zu sterben, viel höher als bei einer Grippe?

Bei der Berechnung der   sogenannten   Infektions-Todesrate (IFR, Verhältnis der Todesfälle zu der Gesamtzahl der Infizierten) stützen sich Forscher auf sogenannte Antikörpertests . Diese können   aufzeigen, wie hoch der Anteil an Infizierten in einer Bevölkerungsgruppe ist. Eine viel beachtete Studie aus Genf kam zu   dem   Schluss, dass rund 10 Prozent der Bevölkerung schon in Kontakt mit dem Virus war und dass die IFR im Kanton Genf bei rund 0,6 Prozent liegt. Eine andere sogenannte   Seroprävalenzstudie aus dem Kanton Zürich   berechnete die IFR bei 0,5 Prozent.

In der SonntagsZeitung spricht der Infektiologe Pietro Vernazza vom Kantonsspital St. Gallen dagegen von gerade mal 500 bis 1000 Todesfällen auf eine Million Infizierte, das entspräche einer IFR von 0,5 bis 1 Promille oder bis zu zehnmal weniger ,   als dies die Schweizer Studien nahelegen. S eine Aussage sei global gemeint, sagt Vernazza auf Nachfrage, die Zahl 500 bis 1000 habe er so gelesen und sie erscheine ihm plausibel.   Trotzdem zitiert er a uf seiner Website   I nfekt.ch   als   Beispiel   auch das   Tessin. Dort haben bei einer Gesamtbevölkerung von 350’000   etwa   10 Prozent (rund 35’000 Menschen) Kontakt mit dem Virus gehabt, 350 sind bislang gestorben. Das entspricht einer IFR von einem Prozent, und nicht einem Promille.

Vernazza sagt weiter, dass es «der Natur entspricht, dass viele Menschen im hohen Alter an einem Virus sterben». Das ist definitiv richtig. So fordert auch die saisonale Grippe vorwiegend betagte Opfer. Eine Analyse des britischen Statistikers David Spiegelhalter von der Universität Cambridge zeigte zudem, dass Covid-19 nur bei der Gruppe der 60- bis 80-Jährigen das «normale» Sterberisiko erhöht, konkret: in etwa verdoppelt.

2. Ist alles gut, sobald es eine Impfung gegen Sars-CoV-2 gibt?

Davon ging man lang e   aus, heute sind sich die Experten allerdings nicht mehr so sicher. Denn bei einer Covid-19-Erkrankung (vor allem bei schweren Fällen) produziert das Immunsystem zwar Antikörper gegen das Virus. Diese verschwinden aber bei den meisten schon nach ein paar Monaten wieder. Das wiederum heisst nicht, dass der Körper sich nicht wappnen kann gegen eine erneute Infektion. Denn das Immunsystem behält einerseits sogenannte B-Gedächtniszellen zurück, die in der Lage sind, bei einer erneuten Infektion schnell Sars-CoV-2-spezifische Antikörper zu produzieren. Andererseits kann eine Infektion mit Sars-CoV-2 auch eine sogenannte zelluläre Immunantwort auslösen.

Weil vieles noch n icht klar ist , was die Immunreaktion auf eine Infektion mit Sars-CoV-2 betrifft, ist es auch schwierig ,   vorauszusagen, was ein Impfstoff bewirken müsste. Laut   dem Immunologen Onur   Boyman   vom Universitätsspital Zürich   braucht man vermutlich einen Impfstoff, der sowohl eine Antikörper- als auch eine zelluläre Antwort auslöst.

Darauf deuten auch diverse Meldungen von erfolgreichen klinischen Tests mit möglichen Impfstoffen hin. So bewirkte ein experimenteller Impfstoff der Firma Moderna sowohl eine Antikörper- wie auch eine T-Zell-Antwort, allerdings erst bei relativ wenigen Probanden. Ähnliche Resultate vermeldete die Firma Astra Zeneca zusammen mit der Universität Oxford Anfang Woche. Ob die mit den Impfstoffen hervorgerufene Immunantwort auch tatsächlich vor einer Infektion mit Sars-CoV-2 schützt, können aber erst grössere Patientenstudien zeigen, die derzeit an verschiedenen Orten anlaufen.

Wie lange ein allfälliger Impfstoff   schützen   wird, ist noch völlig offen. Ideal wäre eine Vakzine, die man einmal spritzen muss und die dann ein Leben lang schützt – wie etwa der Masernimpfstoff. Dass dies bei Sars-CoV-2 auch gelingen könnte, daran zweifeln aber   die   Experten. Wahrscheinlicher sei, sagte die Virologin Alexandra Trkola von der Universität Zürich in der   « NZZ am Sonntag » , dass man bei Sars-CoV-2 – ähnlich wie bei der Grippe – vorerst regelmässig impfen m ü ss e .   Kommt dazu, dass ein potenzieller Impfstoff gerade bei der am stärksten betroffenen Gruppe, den älteren Menschen, möglicherweise kaum nützt, wie Pietro Vernazza im Interview anmerkt. Vor allem die Jungen müssten sich impfen lassen, aus Solidarität.

3. Werden wir je eine Herdenimmunität erreichen?

Das sei fraglich, sagt der Infektiologe Jan Fehr vo n der Universität Zürich.   V ieles deutet derzeit darauf hin, dass man nach einer durchgemachten Infektion mit Sars-CoV-2 – anders als beispielsweise bei Masern – nicht ein Leben lang völlig immun ist gegen den Erreger. Allerdings gehen Experten wie Fehr davon aus, dass eine erneute Infektion milder ausfallen   könnte , weil ein gewisser Restschutz, etwa durch B-Gedächtniszellen, welche die Sars-CoV-2-spezifischen Antikörper herstellen können, oder auch durch T-Zellen ,   bleiben wird. Möglicherweise hilft auch eine gewisse «Kreuzimmunität»   – d as heisst, dass frühere Infektionen mit anderen Corona-Erkältungsviren einen Teilschutz gegen Sars-CoV-2 liefern.   Für Pietro Vernazza ist dies ein Hauptargument dafür, dass die Sterberate deutlich tiefer sein werde, als dies aktuelle Studien berechnen.

Die meisten Experten gehen davon aus, dass das Virus bleiben – und langfristig harmloser wird: wegen des zumindest teilweise vorhandenen Schutzes nach einer bereits durchgemachten Infektion, wegen einer Kreuzimmunität oder dank einer Impfung. Das könne man aber auch gerade umgekehrt sehen, sagt der Virologe Volker Thiel von der Universität Bern: «Das Virus schwächt sich nicht ab, sondern wir haben uns gestärkt.»

4. Machen Mutationen das Virus mit der Zeit harmloser?

Ein solches Szenario wird immer wieder angeführt, unter anderem auch vom bekannten deutschen Virologen Christian Drosten. In einem Podcast des Senders NDR sagte Drosten, dass eine Mutation im Erbgut des Virus möglicherweise dazu führen könnte, dass sich Sars-CoV-2 noch besser in der Nase replizier e   und so besser übertragen w erde . «Aber in der Nase werden wir nicht allzu krank davon. Das heisst, das Ganze wird auf lange Sicht zu einem Schnupfen, der sich für die Lunge gar nicht mehr interessiert. So etwas könnte passieren.»

Dass sich Viren tendenziell eher abschwäch t en, habe sich als gängige Meinung festgesetzt, sagt der Virologe Volker Thiel von der Universität Bern. Es sei aber «ganz schwierig ,   zu dokumentieren», ob eine Mutation ein Virus schwächer oder umgekehrt pathogener mach e . Dazu brauche es Tierversuche mit einem «guten Tiermodell». In der Fachliteratur seien nur ganz wenige Fälle beschrieben, etwa von einem Schweinevirus, das bei Ferkeln massiven Durchfall auslöst, sodass diese daran sterben können. Durch eine Mutation   sei   das Virus dann weniger im Darm, dafür mehr im Mund- und Rachenraum aktiv   gewesen. «Da war   es dann nicht mehr so gefährlich » , sagt Thiel.

5. Ist die Grippe gefährlicher, als wir meinen? Und das Coronavirus harmloser?

«Das Coronavirus scheint weniger gefährlich als gemeinhin vermutet», sagte Pietro Vernazza in dem Interview. Die Sterblichkeit bewege sich in der Grössenordnung der saisonalen Grippe (was andere Experten für stark untertrieben halten, siehe Punkt 1). Und: «Jedes Jahr sterben in der Schweiz junge Menschen an der Grippe. Bei Covid ist das nicht anders.» Aber bei der Grippe publiziere niemand die tragischen Todesfälle bei jungen Menschen oder die Zahl der Todesfälle.

«Ein Vergleich der beiden Krankheiten ist nicht sinnvoll», sagt dagegen der Infektiologe Jan Fehr vo n der Universität   Zürich. «Beide Krankheiten sind sehr ernst zu nehmen.» Noch könne man nicht sagen, ob sich die Symptome und Langzeitfolgen der beiden Krankheiten vergleichen l ie ssen, die Wissenschaft sei immer noch am: «lernen, lernen, lernen» . Klar sei, so Fehr weiter, dass es sich bei Covid-19 um eine Pandemie handle, die innert weniger Monate   H underttausende von Menschen das Leben gekostet ha be   und die noch lange nicht am Abflauen s ei .

6. Es kann Jahre dauern, bis eine Corona-Impfung verfügbar ist. Können wir es uns leisten, die Wirtschaft so lange einzuschränken, damit Personen aus Risikogruppen ein paar Monate oder Jahre länger leben?

«Die Wirtschaft wird sich erst dann wieder völlig erholen, wenn das Virus eingedämmt ist», sagt Monika Bütler, Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule St. Gallen. Voraussetzung dafür sei nicht zwingend eine dauerhafte Impfung, es könnten auch Medikamente oder bessere Behandlungsmöglichkeiten sein. «Es ist illusorisch,   zu glauben, dass wir ohne Einschränkungen eine brummende Wirtschaft hätten.» Aus Angst vor einer Ansteckung gingen die Menschen weniger ins Restaurant oder an Veranstaltungen; die Nachfrage gehe auch ohne Schliessungen zurück.

Tiefe Fallzahlen und gezieltes Testen in industrialisierten Ländern seien deshalb nicht nur gut für die Gesundheit, sondern richteten auch den geringsten wirtschaftlichen Schaden an. Der Staat könne aber durchaus etwas tun, um die Wirtschaft wieder anzustossen und den Strukturwandel unterstützend zu begleiten. Gefragt sei eine Wirtschaftspolitik, die unternehmerischen Initiativen Freiräume einräum e , Investitionen förder e   und dafür sorg e , dass die Bildung nicht an Bedeutung verlier e . «Dann profitieren wir bei einer erfolgreichen Bekämpfung des Virus sogar doppelt.»

7. Müssen wir einen anderen Umgang mit dem Tod finden und akzeptieren, dass wir nicht alle medizinischen Möglichkeiten einsetzen können, um noch etwas länger zu leben?

Mathias Wirth, Ethiker und Professor an der Universität Bern, würde die Frage in einem Fall mit Ja beantworten, wie er sagt: «Wenn mit Fatalismus der Punkt bei einem schweren Krankheitsverlauf gemeint ist, der mit einer Diagnose der Erschöpfung assoziiert wird. Wenn also die persönlichen und medizinischen Kapazitäten, die sich gegen den Tod stellen, an ein Ende gekommen sind . »

Der Tod mache zu verschiedenen Zeiten im Leben jeweils andere Normen relevant: Einmal sei es geboten, alle medizinischen Möglichkeiten auszuschöpfen, um der Würde der Person oder dem, was sie ertragen k önne , zu entsprechen. Ein anderes Mal sei es geboten, medizinische Massnahmen zu beenden, um der Würde der Person und dem, was sie ertragen k önne , zu entsprechen. Auch im Kontext schwerer C ovid-19-Verläufe gehe es um den Versuch, in dieser Spannung zu denken. (Nik Walter, Janine Hosp)


Dieser Artikel wurde automatisch aus unseren alten Redaktionssystemen auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: servicedesk@zol.ch

Kommentar schreiben

Bitte geben Sie ein Kommentar ein.

Wir veröffentlichen Ihren Kommentar mit Ihrem Vor- und Nachnamen.
* Pflichtfeld

Anzeige

Anzeige