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Symbolbild: Pixabay.

Die Freiheit, die ich suche

Von Yara Isaak aus Fehraltorf. Die 15-Jährige erhielt im SMS-Voting in der Kategorie «Newcomer» am drittmeisten Stimmen und erreichte mit ihrer Geschichte den 3. Platz des Schreibstar-Wettbewerb 2021.

Symbolbild: Pixabay.

Veröffentlicht am: 10.12.2021 – 07.00 Uhr

Kennst du dieses Gefühl, eingesperrt zu sein? In einem ewigen Kreislauf. Und du kommst da nicht raus! Du fühlst dich hilflos und allein. Du bist einsam, unsichtbar. Es tut weh. Alle scheinen glücklich und frei zu sein. Nur du nicht. Dieses Gefühl plagt mich seit Wochen. Abends weine ich mich in den Schlaf, und morgens wache ich emotionslos und kalt auf. Erst in der Schule setzen die Gefühle wieder ein, dann, wenn ich merke, dass ich alleine bin. Ich ziehe meine Bücher näher an mich heran und meine Kapuze auf den Kopf. Alleine verlasse ich das Schulgelände. Weil niemand zu Hause ist, verkrieche ich mich direkt in meinem Zimmer, lege mich aufs Bett und das Miesfühlen geht weiter.

Ich denke zurück an die einfacheren Zeiten. An die Zeiten, die ich mit Freunden verbracht habe. An die Zeiten, in denen ich frei war. Frei vom Nachdenken. Einfach mitten im Leben. Da kommen die Emotionen wieder hoch. Die Tränen, die mein Gesicht herunterkullern, wische ich in mein Kissen. Langsam nicke ich ein. Erst durch ein lautes Poltern im Hausflur erwache ich wieder. Die nassen Locken meines Wuschelkopfs kleben in meinem Gesicht. Verschlafen reibe ich mir die Augen. Meine Mutter steht plötzlich in meinem Zimmer. Wütend schaut sie mich an und stürmt innerhalb einer Sekunde wieder nach draussen. Die Türe knallt und ich erschrecke.

Meine Mutter arbeitet nicht. Täglich geht sie zum Bingospielen. Mein Vater ist vor wenigen Jahren nach Irland abgehauen, und mein Bruder ist, als er 18 geworden ist, sofort ausgezogen. Ich habe dieses Privileg nicht. Wahrscheinlich will sie mich genauso loswerden, wie ich sie. Aber das geht momentan halt einfach nicht. Im Wohnzimmer stehen überall leere Weinflaschen herum. Meine Mutter hat ein Alkoholproblem. Der Alkohol hat ihr vieles geraubt. Vertrauen, Lebenslust oder auch Liebe.

Kaum stehe ich in der Küche, schreit sie mich auch schon wieder an. Mir steigen wieder die Tränen in die Augen. Meine Mutter in so einem Zustand zu sehen, tut mir weh. Die Erinnerungen, die hochkommen. Was wir gemeinsam erlebt haben, bevor ihr Problem entstand. Sie sind nur noch verschwommen und in tiefster Vergangenheit. Sie hat sich verändert. Ich auch. Ich schlucke leer, als ich an ihr vorbei zum Kühlschrank gehe und wieder einmal feststelle, dass er kaum was beinhaltet. In dem Moment, in dem ich mich umdrehe, ist meine Mutter verschwunden.

Ich knalle die Tür des Kühlschranks zu und sehe, dass die Postkarten von Irland nicht mehr da hängen. Die wenigen Karten meines Vaters sind weg. Wenn ich mir die wunderschönen Strassen angesehen habe, gab es mir das Gefühl von Geborgenheit. Ein Gefühl, das ich sehr vermisse und wiedererlangen möchte. Nach einer weiteren Nacht weinen und einem weiteren kalten, gefühlslosen Morgen, komme ich nach Hause, und wie erwartet ist die Alkoholikerin wieder einmal nicht da.

Um endlich alle die benutzten Taschentücher loszuwerden, öffne ich den Mülleimer in der Küche. Und zu aller Überraschung finde ich da die Postkarten meines Vaters. Mit ihnen mache ich mich auf den Weg zurück in mein Zimmer, dabei kann ich meinen Blick nicht von ihnen abwenden. Die ewige Freiheit, die darauf gezeichnet ist, fasziniert mich. Nachdem ich meinen Laptop aufgestartet habe, mache ich mich über Irland schlau. Ich sehe mir viele Bilder an, und ich hatte ja keine Ahnung, wie schön diese Insel ist. Die innere Wärme, die Geborgenheit ist unbeschreiblich. Andere verlieben sich in Menschen. Ich habe mich in ein Land verliebt und möchte es unbedingt entdecken.

Ich muss hier raus. Weg von allem Alkohol. Weg von Elend und Trauer. An einen Ort, an dem ich neu anfangen kann. Der Ort nennt sich Irland. Ich beginne eine E-Mail zu schreiben. Eine E-Mail an meinen Vater. Auch wenn ich ihn wenige Jahre nicht mehr gesehen habe, möchte ich mich mit ihm in Kontakt setzen. Auch wenn ich gar nicht wissen kann, ob er mich weder sehen noch kontaktieren möchte, schreibe ich ihm eine E-Mail. Eine sehr detaillierte E-Mail sogar. Ich schreibe ihm von allem, was ich hier erlebe und durchmache. Ich schreibe ihm von Mama und wie sie sich verändert hat. Und ich schreibe ihm, dass ich gerne nach Irland kommen möchte, in Irland bleiben möchte.

Die ersten Schritte auf dem Asphalt in Irland fühlen sich an wie ein Zuhause, wie ich es nicht kenne. Ich trage mein Gepäck in Richtung eines eher älteren Autos, an welchem man einen Umriss erkennt. Diese Umrisse sind mir vertraut. Es ist mein Vater. Mit langsamen Schritten kommt er auf mich zu. Er grinst bis über beide Ohren. Die Umarmung, die wir teilen, fühlt sich vertraut und zugleich so fremd an. Aber sie fühlt sich gut an. Das kleine Häuschen meines Vaters liegt nahe der Küste. Der Wind, der uns durch die Gassen zum Meer leitet, verwuschelt mir meinen Lockenkopf. Ich kann den Strand schon sehen. Mit einem kurzen Sprint erreiche ich das Wasser. Meine Füsse tauchen in die Wellen. Wie habe ich diese Freiheit vermisst. Mein ewiger Kreislauf ist gelöst. Du kannst auch deinen lösen.


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