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Gesellschaft
Weihrauch wird verströmt an einer Bischofsweihe im Kloster Einsiedeln.

Weihrauch wird verströmt an einer Bischofsweihe im Kloster Einsiedeln. Foto: Keystone

Skandal um sexuellen Missbrauch

Schock, Wut und Durchhalteparolen bei den Katholiken im Kanton

Die Studie über sexuellen Missbrauch treibt die Gläubigen um. Die Kirche verspricht, genauer hinzuschauen, und lanciert ein anonymes Meldesystem.

Weihrauch wird verströmt an einer Bischofsweihe im Kloster Einsiedeln. Foto: Keystone

Veröffentlicht am: 13.09.2023 – 09.05 Uhr

Der Befund ist erschreckend: In der Schweiz kam es seit 1950 zu mindestens tausend Missbrauchsfällen im Umfeld der katholischen Kirche – und das sei bloss «die Spitze des Eisbergs».

Dies zeigt eine am Dienstag veröffentlichte Untersuchung der Universität Zürich. Demnach haben sich Hunderte Kirchenmänner sexuell an Kindern vergangen – folgenlos, auch dank Deckung von Bischöfen.

Betroffene und Angehörige im Stich gelassen

«Ich bin erschüttert über das Ausmass der Missbräuche und wütend über das eklatante Versagen der kirchlichen Institutionen», sagt Raphael Meyer, Präsident des Synodalrats der Katholischen Kirche im Kanton Zürich. Die wehrlosen Betroffenen und ihre Angehörigen seien im Stich gelassen worden.

Jetzt müsse die Präventionsarbeit konsequent weitergeführt werden, sagt Meyer – «das schulden wir allen Missbrauchsbetroffenen».

Die Katholische Kirche im Kanton Zürich habe bereits reagiert und ein neues Online-Meldetool lanciert, mit welchem Verdachtsmomente anonym an eine zentrale Stelle gemeldet werden könnten. Zahlreiche Kirchgemeinden hätten den Meldebutton schon auf ihrer Website integriert.

Hoffen auf Turnaround

Doch wie konnte das System des Missbrauchs so lange funktionieren?

«Kirchliche Amtsträger konnten ohne Konsequenzen vertuschen oder bagatellisieren, weil den Verantwortungsträgern der Schutz des Rufs der Kirche wichtiger war als der Schutz der Betroffenen», sagt der Präsident der Exekutive der Katholischen Kirche im Kanton Zürich.

Ein falsch verstandenes Autoritätsverständnis in der Kirche habe dazu beigetragen.

Raphael Meyer, Synodalratspräsident der Katholischen Kirche im Kanton Zürich.
Raphael Meyer, Synodalratspräsident der Katholischen Kirche im Kanton Zürich. Foto: PD

Gerät Raphael Meyers Glauben nun ins Wanken? «Mein Vertrauen in die Struktur der katholischen Kirche wurde sicher betroffen, aber noch habe ich Hoffnung, dass wir einen Turnaround schaffen», sagt er.

«Mauer des Schweigens einreissen»

Deutliche Worte kommen von Luis Varandas, Generalvikar für die Bistumsregion Zürich-Glarus: «Die Opfer haben Unrecht erfahren, und die Taten sind abscheulich.

Es wurde viel vertuscht, kleingeredet und verheimlicht», sagt er. Die Kirche habe den Opfern zu wenig zugehört und hingeschaut. Diesen Menschen müsse Gerechtigkeit widerfahren.

Während vieler Jahre habe die katholische Kirche ein System gepflegt, das sich selbst kontrolliere, sagt Varandas.

Die Unistudie und die angekündigten Massnahmen wie das Meldetool seien erste Schritte, dieses System aufzubrechen. «Auch wenn es schmerzhaft ist und weiterhin sein wird, rufen wir alle Opfer dazu auf, sich zu melden, damit wir die Mauer des Schweigens einreissen können», sagt der Generalvikar.

«Ein feudalistisches System»

Nicht überrascht vom Ausmass des Missbrauchs ist die kirchenkritische Theologin Monika Schmid, langjährige und kämpferische Leiterin der katholischen Kirchgemeinde Illnau-Effretikon.

Abschiedsportrait Pfarrerin Monika Schmid.
Die ehemalige Pfarrerin Monika Schmid überlege sie sich einen Austritt «seit Jahren täglich». (Archiv) Foto: Seraina Boner

«Die katholische Kirche ist eine Monarchie, ein feudalistisches System», sagt Schmid. Solange die Struktur der Macht, nur unter Männern, nicht gebrochen werde, werde sich nichts ändern. Die Bischöfe vereinigten Legislative, Exekutive und Jurisdiktion in sich.

Ein einzelner Gläubiger oder eine Seelsorgerin wie sie habe keine Chance, sich zu wehren. Weil es keine offenen Anlaufstellen gebe, laufe alles über den Pfarrer oder Bischof.

Das Vertrauen wiedergewinnen kann die Kirche laut Schmid nur dann, wenn sie «radikal wahr macht, dass alle Menschen die gleiche Würde haben». Schon heute und nicht erst morgen müssten die Frauen anerkannt werden für alle Ämter, das Gleiche gelte für queere Menschen.

Und was macht das Ganze mit ihrem Glauben? Den habe sie «aus der Kirche heraus gerettet», sagt Schmid. Allerdings überlege sie sich einen Austritt «seit Jahren täglich».

«Glaube ist mehr als Kirche»

Schwer enttäuscht von den Bischöfen und dem Ausmass des Missbrauchs und der Vertuschung zeigt sich auch die Theologin Veronika Jehle, Co-Redaktionsleiterin beim Pfarrblatt der Katholischen Kirche im Kanton Zürich. Nun bestätige sich, was viele seit Jahren geahnt hätten.

Das Vertrauen in die katholische Kirche wiederherzustellen, werde viel Zeit in Anspruch nehmen, sagt Jehle. Dass dies gelingen kann, scheint ihr unmöglich, solange das «hierarchisch-monarchische System» weiter bestehe, der Bischof alle Macht in sich vereine und alles auf das männliche Geschlecht beschränkt bleibe.

Karin Weyermann, Präsidentin Die Mitte Zürich.
«Die Kirche muss die Lehren ziehen»: Karin Weyermann, Präsidentin Die Mitte Zürich. Foto: Keystone

«Das macht einem schon Bauchweh», sagt Karin Weyermann, Präsidentin der Mitte-Partei Stadt Zürich, der ehemaligen CVP. Erschüttert die Studie auch ihren Glauben?

«Der Glaube ist mehr als Kirche», sagt Weyermann, für die ein Kirchenaustritt keine Option ist. Sie habe die Kirche immer als wertvolle Gemeinschaft erlebt und glücklicherweise nie einen Übergriff erlebt. Wichtig sei nun, dass die Kirche die Lehren ziehe und die Probleme offen angehe.

Auch die frühere, langjährige CVP-Nationalrätin Kathy Riklin fordert, dass die Kirche die Missbrauchsfälle lückenlos aufklärt.

Für sie persönlich sei die Institution Kirche als Ganzes nicht infrage gestellt, sagt Riklin: «Mein Glaube hängt nicht an den Priestern.» Die Kirche habe auch viel Gutes geleistet für Menschen in Not, das dürfe man bei aller Kritik an den Missbräuchen nicht vergessen, sagt Riklin.

Filmemacher regt Gedenkstätte an

Miklós Gimes, Autor des aktuellen Dokumentarfilms «Unser Vater» über einen katholischen Priester, der mit vier Frauen mindestens sechs Kinder zeugte, kritisiert die parallele Gerichtsbarkeit der katholischen Kirche.

Bei sexuellem Missbrauch handle es sich um Straftaten, die vor ein ordentliches Gericht gehörten. Er kritisiert weiter, dass die Kirche die mediale Aufmerksamkeit benutze, um sich reformfreudig zu präsentieren, ohne die Tabus Zölibat und Priesteramt der Frauen anpacken zu müssen.

Die nun aufgedeckten Missbrauchsfälle sind für den Filmemacher ein Ausdruck des autoritären gesellschaftlichen Klimas der Nachkriegszeit in der Schweiz.

Gimes erinnert an Körperstrafen in Erziehungsheimen, Zwangsadoptionen und fürsorgerische Massnahmen, bei denen sich jeweils ähnliche Mechanismen der Vertuschung gezeigt hätten. Gimes regt eine Art Gedenkstätte an, die sich mit dieser repressiven Schweiz beschäftigt.

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