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Gesellschaft
Portrait von Dr. Thomas Haehner, fotografiert im Aerztezentrum Niederweningen.

«Mache diesen Job aus Überzeugung»: Hausarzt Thomas Haehner im Jahr 2021 in einer seiner Praxen. (Archiv) Foto: Urs Jaudas

Chaos um geschlossenes Ärztezentrum

Mit ihm erlitt Turbenthal Schiffbruch … und 17 weitere Praxen

Nach Mein Arzt ist auch die Firma Medium Salutis von Thomas Haehner gescheitert. Allein im Kanton Zürich verlieren nun 10’000 Menschen ihren Hausarzt.

«Mache diesen Job aus Überzeugung»: Hausarzt Thomas Haehner im Jahr 2021 in einer seiner Praxen. (Archiv) Foto: Urs Jaudas

Veröffentlicht am: 30.06.2023 – 15.12 Uhr

Er wollte Hausarztpraxen retten, die ärztliche Versorgung in Landgemeinden sicherstellen. Doch nun stehen unzählige Patientinnen und Patienten vor verschlossenen Türen. Der deutsche Arzt Thomas Haehner ist mit seiner Praxiskette in der Schweiz offensichtlich gescheitert.

«Die Angestellten sind seit Wochen ohne Lohn, die Rechnungen unbezahlt, Telefone und Strom werden abgestellt», sagt Peter Indra, Chef des Zürcher Amtes für Gesundheit. «Man kann von einem Zusammenbruch sprechen.»

Die übrig gebliebenen Angestellten werden von Patientinnen und Patienten bestürmt, die ihre Krankenakten abholen wollen. Oder verzweifelt ihre Medikamente verlangen.

Das Amt für Gesundheit hilft den Mitarbeitenden vor Ort, die Warteschlangen vor den Praxen in den Griff zu bekommen. Den Stundenlohn des Praxispersonals für dessen Einsatz bezahlt der Kanton.

Und Haehner? «Ich bin Arzt und mache diesen Job aus Überzeugung», sagte er dieser Zeitung noch vor zwei Jahren. Nun scheint der Arzt und Unternehmer abgetaucht zu sein, auf Anfragen reagierte er nicht.

Zurück bleibt die Frage: Hätte man die aktuelle Situation verhindern können – verhindern müssen? Denn es war eine Eskalation mit Ansage.

Praxen vom Thurgau bis Freiburg

Unter den Namen Medium Salutis und Viamedica hat Haehner in den vergangenen Jahren eine Arztpraxis nach der anderen übernommen. Die Geschäftsidee besticht: Seine Firma organisiert zentral das Personal, die Administration oder auch den Einkauf für die einzelnen Standorte.

Die Hausärztinnen und die Praxisassistentinnen werden administrativ entlastet und können sich ganz auf die Patienten konzentrieren. Das kommt gerade in ländlichen Hausarztpraxen an, die es besonders schwer haben, Nachwuchs zu finden.

Medium Salutis und Viamedica betreiben bis zu 18 Ärztezentren und Praxen, vom freiburgischen Alterswil bis nach Felben-Wellhausen im Thurgau. Doch der rasche Expansionskurs führt schon bald zu Problemen. «Patienten beklagen chaotische Zustände», titelt diese Zeitung im Frühling 2021.

Ständige Personalwechsel, fehlende Krankenakten, unbezahlte Rechnungen, so die Vorwürfe. Haehner gesteht zwar Probleme ein. Doch er ist sicher: «Das liegt in der Vergangenheit, Corona führte leider auch bei uns zu einem Umsatzrückgang.»

Herr Haehner sagte, er sei Opfer einer wirtschaftlichen Verschwörung.

Peter Indra

Chef Gesundheitsamt des Kantons Zürich

Das Amt für Gesundheit des Kantons Zürich, wo die meisten Praxen von Medium Salutis stehen, scheint nicht überzeugt. Man lädt Thomas Haehner zum Gespräch ein. «Es wurden verschiedene Problembereiche besprochen», sagt Peter Indra.

«Herr Haehner sagte, er sei Opfer einer wirtschaftlichen Verschwörung, die ihn sehr viel Geld gekostet habe.» Details kann Indra nicht nennen.

Rund zwei Stunden dauert der Austausch. Das Amt für Gesundheit macht Auflagen, und Haehner verspricht Besserung, wie Indra sagt. Doch leider sei es dabei geblieben.

Laut Indra sind die Interventionsmöglichkeiten des Amtes beschränkt: «Wenn Patienten keine Termine oder Krankenakten erhalten oder plötzlich eine neue Praxis suchen müssen, können wir ihnen für Notfälle das Ärztefon als Triagestelle anbieten, jedoch keinen neuen Hausarzt organisieren.»

Das Amt für Gesundheit selbst könne in einer Arztpraxis erst dann einschreiten, wenn die Patientensicherheit akut gefährdet sei. «Und das war hier nicht der Fall.»

Patient beklagt eine «Katastrophe»

So spitzen sich die Probleme zu, wie Kundenbewertungen verschiedener Standorte aus den vergangenen Monaten zeigen:

«Eine absolute Katastrophe.»

«Telefonisch ist nie jemand zu erreichen.»

«Eine Frechheit gegenüber dem Patienten und der Krankenkasse.»

«Seit einer Woche rufe ich an, da ich dringend meine Medikamente brauche. Immer der Beantworter (…) Ich finde es eine Zumutung. Patienten werden so im Stich gelassen.»

Im vergangenen Mai berichtet das Schweizer Fernsehen, erste Praxen würden kollabieren. Erneut bestätigt Haehner gewisse Probleme. Zum angeblichen Chaos in den Praxen hält er aber fest: «Dies deckt sich mehrheitlich nicht mit der Realität.»

Doch die Berichterstattung hat laut Zürcher Amt für Gesundheit Folgen. «Mitarbeitende und auch Patienten waren verunsichert und liefen davon, auch einige Krankenkassen stellten ihre Zahlungen ein», sagt Peter Indra.

Er glaubt, dass Thomas Haehner eigentlich grösstenteils gute Absichten hatte, sich aber übernahm und die Kette zu schnell ausbauen wollte.

Man sieht ein älteres, graues Gebäude an der Tösstalstrasse in Turbenthal.
Auch das Ärztezentrum Turbenthal ist von dem Chaos um die Firma von Thomas Haehner betroffen. Foto: Noah Salvetti

Und so kommt es nun zu aussergewöhnlichen Szenen. Der «Blick» zeigt diese Woche einen Ansturm wütender Kunden in Turbenthal, die nicht an ihre Akten kommen. Ähnliches spielt sich laut «Zürcher Unterländer» in Dällikon ab.

Das kantonale Amt für Gesundheit rückt derzeit zu jenen Standorten aus, wo Unterstützung gefragt ist und noch Praxispersonal vor Ort ist, und hilft mit, den Patienten ihre Dossiers zu übergeben.

Zudem sei man daran, Gespräche zwischen den Gemeinden und den ehemals von Haehner angestellten Ärztinnen und Ärzten zu organisieren, sagt Peter Indra. Einige von diesen würden gern weiterarbeiten, scheuten sich aber vor den finanziellen Risiken.

«Eine Gemeinde kann Starthilfe leisten», sagt Indra. Sie könne zum Beispiel Räumlichkeiten kaufen und günstig an einen Arzt vermieten.

Man sieht einen Aushang, der an einer Türe befestigt ist.
Die Türe ist geschlossen: Ein Aushang in Turbenthal informiert die Patienten, dass im Moment niemand in der Praxis arbeitet. Foto: Bettina Schnider

Eine andere Lösung wären Praxisketten. So wie sie auch Thomas Haehner angestrebt hatte. «Die Einzelpraxis ist wohl kein Modell der Zukunft. Es wird vermehrt Praxisgemeinschaften oder ganze Gruppen geben», sagt Peter Indra.

«Wir sitzen nun mit den Gemeinden, der Ärztegesellschaft und der Gesundheitskonferenz des Kantons Zürich zusammen, um zu schauen, wie man Nachfolgeregelungen für Arztpraxen finden und solche Probleme mit Praxisketten verhindern oder zumindest früher erkennen kann.»

Haehners Praxisgruppe ist nicht die erste, die zusammenbricht. Das Gleiche ist vor drei Jahren mit der Kette «MeinArzt» des Österreichers Christian Neuschitzer passiert.

Dieser hatte sich finanziell übernommen und konnte die Löhne seiner Angestellten nicht mehr zahlen. Später wurde er wegen Betrugs bei einem Covid-Kredit verurteilt und des Landes verwiesen.

Tausende müssen sich eine neue Praxis suchen

Peter Indra glaubt nicht, dass sein Amt die Schliessung der Haehner-Praxen hätte verhindern können. «Natürlich haben wir auch eine moralische Verpflichtung gegenüber den Patienten.

Aber wegen finanzieller Probleme oder schlechter Organisation können wir nicht einfach die Bewilligung entziehen.» Der Amtschef kündigt allerdings an, zu prüfen, ob die gesetzlichen Grundlagen angepasst werden müssen.

Das Nachsehen haben die Kunden und Kundinnen von Haehners Praxen in Embrach, Oberglatt, Niederweningen, Dällikon und Turbenthal, die jetzt mühsam eine neue Hausärztin suchen müssen.

Die Leute in Rafz, wo Haehner ebenfalls eine Praxis übernommen hatte, haben hingegen Glück, Diese wird unter dem Dach der Land-Permanence AG weitergeführt. Deren Chef, ein erfahrener Weinländer Hausarzt, hat Haehner ausfindig gemacht und ihm die Praxis abgekauft.

Thomas Haehner war für eine Stellungnahme nicht erreichbar. Als ihn diese Zeitung vor zwei Jahren mit dem Vorwurf der chaotischen Zustände konfrontierte, gab er an: «Wir behandeln unsere Patienten auf der Grundlage der ärztlichen ethischen Werte.» Natürlich müsse jede Praxis finanziell rentieren. «Aber im Vordergrund steht immer das Patientenwohl.»

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