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«Wir sollten akzeptieren, dass die Schweiz keine weisse Weste hat»

Zürich war in den Sklavenhandel verstrickt, wie eine neue Studie zeigt. Muss das Escher-Denkmal nun weg? Einschätzungen eines Historikers.

Veröffentlicht am: 03.10.2020 – 10.00 Uhr

Investitionen in Sklavenschiffe, Baumwolle aus den Südstaaten, eine Kaffeeplantage im Besitz der Familie Escher. Zürich war mannigfach mit der Sklavenwirtschaft verknüpft, wie eine Studie offenlegt. Lesen Sie  weitere Beispiele in diesem Artikel .

Ihre neue Studie zeigt, dass Zürich im 18. Jahrhundert in die Sklaverei und den Sklavenhandel investierte. Waren Sie vom Ausmass überrascht?
Marcel Brengard: Ich habe das so erwartet. Es ist in der Öffentlichkeit einfach noch wenig bekannt. Es herrschte lange die Meinung vor, weil die Schweiz keine Kolonien hatte, wären wir auch nicht am Sklavenhandel beteiligt gewesen.

Was wusste man bisher zu wenig?
Zürich war im 18. Jahrhundert stark mit der transatlantischen Wirtschaft verflochten, das zeigen wir mit neuen Zahlen. Und der Sklavenhandel war damals ein entscheidender Faktor. Auch die Schweizer Textilindustrie profitierte von der Sklaverei, was bisher nicht so betont wurde. Zudem lebten in Zürich selbst zeitweise Sklavenkinder, allerdings aus dem Osmanischen Reich.

Marcel Brengard ist Doktorand am historischen Institut der Universität Zürich. Zusammen mit Frank Schubert und Lukas Zürcher hat er den Bericht zu den Verknüpfungen der Stadt Zürich mit dem Sklavenhandel und der Sklaverei verfasst.

 

Wie stark beteiligten sich die Schweiz und insbesondere Zürich am transatlantischen Sklavenhandel?
Das ist nicht einfach zu beziffern. Im globalen Zusammenhang hat die Schweiz eine untergeordnete Rolle gespielt. Der Anteil an der Finanzierung des weltweiten Sklavenhandels lag im einstelligen Prozentbereich. Trotzdem war dies nicht unbedeutend, wenn man überlegt, welche Grundgedanken hinter der Sklaverei stehen. Zudem war auch die schweizerische Textilindustrie mit der Sklaverei verflochten.

Hätte es den Aufstieg der Schweizer Textilindustrie und die Industrialisierung ohne Sklaverei gegeben?
Man kann nicht sagen, dass die gesamte Industrialisierung in der Schweiz durch den Sklavenhandel finanziert war und sie ohne Sklaverei nicht stattgefunden hätte. Trotzdem spielten die transatlantischen Verbindungen und mit ihnen die Sklaverei eine Rolle bei der Industrialisierung. Der grösste Teil der Baumwolle, die die Schweizer Textilindustrie im 18. Jahrhundert verarbeitete, stammte beispielsweise von Plantagen aus den US-Südstaaten, deren Besitzer Sklaven ausbeuteten. Und auch die in der Schweiz hergestellten Indiennes – bedruckte Baumwollstoffe – waren im Sklavenhandel ein wichtiges Element.

Wie muss man sich das vorstellen?
Indiennes wurden an Sklavenhändler verkauft, die sie wiederum in Westafrika gegen Sklaven eintauschten. Frankreich verbot diesen Handel mit den Indiennes, die Schweiz sprang in die Bresche. Schweizer Produzenten agierten als Zulieferer für den sogenannten Dreieckshandel zwischen Europa, Afrika und Amerika.

Welche politischen oder gesellschaftlichen Konsequenzen sollte Ihr Bericht jetzt haben?
Als Erstes ist es jetzt einfach mal wichtig, dass man all dies zur Kenntnis nimmt. Diese Themen müssen eine grössere Öffentlichkeit bekommen, und wir sollten über sie diskutieren. Auch wenn es unangenehm ist. Ich bin gespannt, wie die Reaktionen auf den Bericht ausfallen.

Die Black-Lives-Matter-Bewegung war im Juni nach dem Mord an George Floyd in den USA ein grosses Thema. Bei uns ist es vergleichsweise still. Warum?
Es hat vermutlich auch mit der Pandemie zu tun. Im Moment sind wir einfach anderweitig beschäftigt. Aber ich hoffe, das ändert sich wieder.

Im Juni sind in Grossbritannien und den USA mehrere Denkmäler von Sklavenhändlern vom Sockel gestürzt. Auch die Zürcher Familie Escher war in den Sklavenhandel verwickelt. Was soll mit der Escher-Statue in Zürich geschehen?
Wir stehen bei diesen Diskussionen erst am Anfang. Im angelsächsischen Raum waren die gestürzten Denkmäler das Resultat einer schon länger laufenden Debatte. Zudem lassen sich Alfred Escher und beispielsweise der Sklavenhändler Edward Colston, dessen Statue Demonstranten in das Hafenbecken von Bristol stürzten, nicht miteinander vergleichen.

Was war Alfred Eschers Rolle im Sklavenhandel?
Alfred Escher selbst besass keine Sklaven und war auch nicht im Sklavenhandel aktiv. Sein Grossvater investierte in Sklavenschiffe, sein Vater handelte mit Kolonialwaren, und sein Onkel betrieb in Kuba eine Plantage, wo er Sklaven zur Arbeit zwang. Alfred Escher half seinem Vater dabei, diese Plantage mit den Sklaven, nachdem er sie geerbt hatte, weiterzuverkaufen. Es ist allerdings noch zu früh, um die Vermögenswerte, die die Familie in diesen Zusammenhängen erwirtschaftete, zu beziffern. Unklar ist auch, welche Rolle dieses Kapital bei den Firmengründungen von Alfred Escher spielte.

Aus der Textilindustrie entwickelte sich die Maschinenindustrie?
Zumindest teilweise. Die Firma Escher Wyss entwickelte sich beispielsweise aus einer Spinnerei heraus zu einem bedeutenden Maschinenbaukonzern. Somit hatte auch die Maschinenindustrie, die in der Schweiz im 20. Jahrhundert für Wohlstand sorgte, indirekt Verflechtungen mit der transatlantischen Wirtschaft und dem Sklavenhandel.

In diesem Zusammenhang kommt immer wieder das Argument, das war halt damals so, man könne das nicht mit heutigen Massstäben beurteilen.
Dem möchte ich widersprechen. Wir zeigen klar, dass der Sklavenhandel bereits ab dem Jahr 1807 geächtet war. In diesem Jahr verbot Grossbritannien den Handel mit Sklaven. Frankreich folgte im Jahr 1848. Die Forderung nach Abschaffung von Sklavenhandel und Sklaverei war im 19. Jahrhundert eine zentrale politische Debatte. Unter anderem wurde damals das Argument, man wolle den Sklavenhandel beenden, als Rechtfertigung für die Kolonialisierung Afrikas verwendet. Auch Kuba, wo Friedrich Ludwig Escher seine von Sklaven betriebene Plantage besass, verbot den Sklavenhandel im Jahr 1820. Die Plantage war aber noch bis Ende der 1840er-Jahre im Familienbesitz.

Finden Sie, die Stadt sollte die Escher-Statue entfernen?
Ich bin kein Experte für Erinnerungskultur. Aber ich finde, wir sollten einen Umgang finden, der eine Zwischenposition zwischen kritikloser Ehrerbietung und dem Denkmalsturz bezieht. Es sind auf jeden Fall wichtige Debatten. Wir haben am Historischen Seminar der Universität Zürich schon im letzten Herbstsemester ein Seminar zu Zürich und der transatlantischen Sklaverei veranstaltet, bevor die Black-Lives-Matter-Bewegung zum grossen Thema wurde. Und wir wollen uns auch in Zukunft mit den vielfältigen globalen Verflechtungen der Schweiz auseinandersetzen. Dazu gehörten auch Kolonialismus und Sklaverei.

Warum tut sich die Schweiz mit diesen Themen schwer?
Wir sollten akzeptieren, dass die Schweiz keine weisse Weste hat. Es befremdet mich, wie emotional teilweise versucht wird, an diesem Bild festzuhalten. Dass die Schweiz nicht immer die unschuldige Beobachterrolle innehatte, sollten doch schon die Debatten um die von den Nationalsozialisten geraubten und in der Schweiz versteckten Vermögen der ermordeten Juden und Jüdinnen gezeigt haben.

Woher kommt dieser Abwehrreflex?
Es hängt sicher auch mit der Überhöhung von einzelnen starken Männerfiguren zusammen. Ich sehe nicht ein, warum diese Debatten das Erfolgsmodell Schweiz infrage stellen sollten. So funktioniert Geschichtsschreibung nicht. Im Gegenteil: Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem wir offen, auch über die düsteren Kapitel unserer Geschichte, diskutieren sollten. Das ist ein Zeichen für eine starke offene Demokratie und kein Zeichen von Schwäche. (Interview: Alexandra Bröhm)

Das sagt die Stadt dazu

Die Universität Zürich hat die Ergebnisse der Studie während einer Pressekonferenz präsentiert. Unter anderem war auch Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch anwesend. «Eine Arbeitsgruppe arbeitet daran, den Umgang mit Denkmälern zu finden». Gemäss Mauch können 80 Denkmäler hinterfragt werden. In zwei Jahren sollen erste Ergebnisse vorliegen. Die wichtigere Frage sei jedoch, wie man heute mit Opfern von Zwangssituationen umgehen könne. Dazu lädt sie zu einem runden Tisch ein.


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