nach oben

Anzeige

Das Festival Laulupidu in Estland zieht weit über 100'000 Personen an. Wetzipedia.ch

So entstand die estnische Singnation in Wetzikon

Weit über 100'000 Menschen, dazu gegen 30'000 Sänger, pilgern jeweils an das alle fünf Jahre stattfindende estnische Liederfest Laulupidu. Das ultimative estnische Spektakel, ist eigentlich einem Wetziker zu verdanken.

Das Festival Laulupidu in Estland zieht weit über 100'000 Personen an. Wetzipedia.ch

Veröffentlicht am: 02.06.2019 – 09.00 Uhr

Wetzikon im Jahr 1754. Der junge Vikar Johannes Schmidlin wird ins beschauliche Dorf im Zürcher Oberland zum Pfarrer der örtlichen reformierten Kirche berufen. Kein Jahr vergeht, da hat Pfarrer Schmidlin – ein Schüler des Zürcher Grossmünsterkantors Bachofen – eine Singgesellschaft zur Aufwertung des Gemeindegesangs gegründet.

Das ist an sich noch nichts Besonderes, kirchliche Singgesellschaften gab es seit der Auflockerung des Zwingli’schen Musikbanns im 16. Jahrhundert in ländlichen Gebieten immer wieder und Vokalmusik war dank der zahlreichen Collegia musica in gehobenen Häusern beliebt. Doch Schmidlin hatte andere Pläne; er wollte das Volk ausserhalb von Salon- und Kirchenmauern zum Singen bringen.

Im Jahr 1769 – seine Singgesellschaft zählte bereits 200 Mitglieder, stolze 10 Prozent der damaligen Dorfbewohner – veröffentlichte Schmidlin eine Sammlung von weltlichen Liedern, teils vaterländisch-blutig, aber auch zukunftsträchtig. Er schrieb sie für alle Bevölkerungsschichten, für Frauen und für Kinder.

Singen sollte die Menschen nicht nur näher zum Wort Gottes bringen, sondern auch zu Bildung, Freiheit und Wohlstand verhelfen – die Zeitgenossen Rousseau und Pestalozzi lassen grüssen. Zwanzig Jahre vor der Französischen Revolution leistete Schmidlin am Pfäffikersee aufklärerische Pionierarbeit, die weitere fähige Männer im Dorf inspirierten.

Volksgesang als Schweizer Innovation des 19. Jahrhunderts

Als Schmidlin 1772 plötzlich verstarb, kam Hans Jakob Nägeli als neuer Pfarrer ins Dorf und übernahm die Singgesellschaft, in der auch sein jüngster Sohn Hans Georg als Knabe mitsang. Hans Georg war hochbegabt, konnte bereits als Achtjähriger schwierige Klaviersonaten spielen und vertrat seinen Vater hin und wieder als Probeleiter.

Wenig überraschend, dass er sich als junger Mann für den Musikerberuf entschied. Schmidlins Lieder aus Wetziker Kindheitstagen waren es, die Nägeli fortan dazu antrieben, auf Pestalozzis Anregung den Chorgesang als Bildungsmittel fürs Volk zu propagieren.

Unermüdlich reiste Nägeli durchs Land, hielt unzählige Vorträge und gewann Mitstreiter für seine Vision: Johann Heinrich Tobler etwa, der mit Pfarrer Samuel Weishaupt 1825 das weltweit erste Gesangfest im Appenzellerland initiierte und mit der Ode an Gott eine bis heute beliebte Volkshymne beisteuerte. Oder der Luzerner Franz Xaver Schnyder von Wartensee, der nach Frankfurt auswanderte und 1828 die dortige Liedertafel gründete.

Ein Jahr vorher führten württembergische Männerchöre das erste Gesangfest auf deutschem Boden durch. Sie waren die ersten Früchte von Nägelis lebenslangen Bemühungen, die 1838 mit dem Ersten Allgemeinen Deutschen Sängerfest in Frankfurt einen ersten Höhepunkt erreichten – mit Schnyder von Wartensee als Festdirektor.

Expansion nach Norden: Die ersten baltischen Liederfeste

Nun begann sich der Volksgesang nordwärts auszubreiten; die Auffassung, Singen mit politischen Forderungen nach Einigung, Freiheits- und Bürgerrechten zu verbinden, fand rasch Anklang in den entstehenden Nationalbewegungen.

In Lettland und Estland, wo die deutsche Kultur durch die im 12. Jahrhundert eingewanderten Deutschbalten eine führende Rolle spielte, bildeten sich rasch deutschbaltische Gesangvereine nach heimischen Vorbild. Bereits 1836 wurde in Riga ein erstes Gesangfest durchgeführt, weitere folgten 1857 und 1866 in Tallinn.

Echte Volksanlässe waren das noch nicht, die Deutschbalten repräsentierten vor allem die adlige und kirchliche Oberschicht. Aber die Esten mit ihren uralten « Regilaul » -Gesängen kamen auf den Geschmack und wollten ihre eigene Feier. Dank geschicktem Marketing (man verkaufte es der deutsch-russischen Obrigkeit als 50-Jahr-Jubiläumsfest zur Abschaffung der Leibeigenschaft) konnten 845 Sänger das erste estnische Liederfest durchziehen – mit immerhin zwei estnischen Liedern im Programm.

Bis zur Erlangung der ersten Unabhängigkeit 1918 stieg diese Zahl auf über 10 000 Teilnehmer an, inzwischen waren auch gemischte, Frauen- und Kinderchöre zugelassen. Auch während der sowjetischen Besetzung 1940–1991 verstummte die singende Nation nicht. Hans Georg Nägelis Traum eines einig Volk von Sängern ist in Estland Realität und untrennbares Rückgrat der Nation geworden.

Und in der Schweiz? Nägeli wurde zu noch zu Lebzeiten der Titel « Sängervater » zuerkannt, seine Verdienste sind heute aber weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Zu gut meinte es wohl die Geschichte mit Mutter Helvetia, die nicht zur Bewahrung von Freiheit und Einheit tausendfach besungen werden musste wie Eesti Ema, ihr leiderprobtes Pendant.

Estnische Hommage an den Schweizer Sängervater

Immerhin wurde Nägeli vom grossen estnischen Volksliedkomponisten Veljo Tormis ein Denkmal gesetzt, als dieser 1988 zu Beginn der Singenden Revolution einen einfachen Gruß an das Vaterland von 1817 zum estnischen Volkslied Kodukeel ( « Heimatsprache » ) arrangierte. Es wurde kurz darauf im « Lauluväljak » , der Liederfestbühne, von 300 000 Estinnen und Esten unter anderen verbotenen Liedern intoniert.

Die bis heute die grösste Versammlung in der estnischen Geschichte war eine einzigartige Volksdemonstration gegen das bröckelnde Sowjetregime. Nur die 600 Kilometer lange Menschenkette quer durchs Baltikum im Sommer 1989 war noch grösser. Am 20. August 1991 war Estland wieder unabhängig, dank einem weitgehend gewaltlosen Umsturz von unten. Die estnische Nation hatte sich im Gesang vereint, wie es Schmidlin in seinem Gebetslied eines Schweizers seinen Wetzikern predigte: « Lass uns sein ein Licht auf Erden; frei, wie wir sind, andre werden; bis aus allen Nationen eine nur geworden ist. » (David Rossel)

Vom 5. bis 7. Juli findet das Festival  Laulupidu zum 27. Mal statt - im 150. Jahr. Vor Ort wird auch der Chor Vocalino aus Wettingen.

Zum Autor

David Rossel, geb. 1988, studierte Geschichte und Musikwissenschaft an der Universität Basel, heute Leiter zahlreicher Chöre und Präsident des Verbands Chorleitung Nordwestschweiz (VChN)


Dieser Artikel wurde automatisch aus unseren alten Redaktionssystemen auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: servicedesk@zol.ch

Kommentar schreiben

Bitte geben Sie ein Kommentar ein.

Wir veröffentlichen Ihren Kommentar mit Ihrem Vor- und Nachnamen.
* Pflichtfeld

Anzeige

Anzeige