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Hinterwäldler und Holocaust

Veröffentlicht am: 29.07.2020 – 09.57 Uhr

Mit Weltgeschichte und Weltpolitik ist es hierzulande so eine Sache: Lieber nicht zu viel davon, lautet gerade im Politbetrieb oft die Devise. Amts- und Mandatsträger müssen bodenständig sein, ein Übermass an Weltgewandtheit und Bildung gilt schnell einmal als verdächtig. Bundesrat Ueli Maurer blamiert sich und die Nation mit desperatem Englisch vor aller Welt auf CNN? Wie authentisch, schliesslich sind wir doch alle tief im Herzen kauzige Bergler!

Und wer sich als Politiker auf die Ochsentour begeben will, dürfte es in den «Ochsen»-Sälen dieses Landes  als hemdsärmliger Macher von nebenan weitaus leichter haben, als als belesener, verkopfter Student der osteuropäischen Geschichte.

Peinlich oder authentisch? «Swiss President» Ueli Maurer auf CNN.
 

Manchmal aber wird der von einigen fast schon zur Schau gestellte Anti-Intellektualismus auch zum Bumerang. So geschehen letzte Woche, als die Zürcher SVP mit einem Bild des Holocaust-Mahnmals in Berlin für ein Ja zur «Begrenzungsinitiative» warb. Der (berechtigte) Shitstorm liess nicht lange auf sich warten, die Verantwortlichen sprachen von einem «Versehen».

Es gibt Gründe, dies zu glauben. Nicht unbedingt, weil entsprechende Entschuldigungen und Korrekturen auf dem Fuss folgten. Bewusste Grenzüberschreitungen mit anschliessender Relativierung sind für Rechtsparteien eine beliebte Form des Polit-Marketings, gerade in Deutschland. Aber anders als in unserem Nachbarland ist der Holocaust hierzulande nicht jenes ultimative Tabu, mit dessen Brechung man möglichen Wählerschichten an den braunsten Rändern der Gesellschaft zuzwinkern kann.

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Klartext von Benjamin Rothschild, stellvertretender Chefredaktor, über die Schweizer Wahrnehmung Beitrag in Merkliste speichern Es ist vielmehr immer wieder erstaunlich, wie ausgeprägt Ignoranz und Unsensibilität sind, wenn es um den Umgang mit dem Jahrhundertverbrechen geht. Die jüngste Peinlichkeit der SVP ist dabei nur die unrühmliche Spitze des Eisbergs. Da war zum Beispiel auch der «Kristallnacht»-Tweet eines früheren SVP-Schulpflegers. Oder der krude Vergleich von Alt-Bundesrat Christoph Blocher, der in einem Interview die angebliche Stimmungsmache gegen seine Partei allen Ernstes mit der Judenverfolgung durch die Nazis verglichen hatte (wobei es sich aber wohl effektiv um einen bewussten Tabubruch handelte).

Als mehrfache Wiederholungstäterin führt die SVP die Liste der eidgenössischen Holocaust-Ignoranten zwar sicher an, alleine auf ihr vertreten ist sie aber nicht. Vor rund drei Jahren sorgte der ehemalige grüne Nationalrat Jonas Fricker mit einem abstrusen Vergleich für Aufsehen: In einer Debatte über die Fair-Food-Initiative zog er Parallelen zwischen Tiertransporten und Deportationen nach Auschwitz.

Auch Journalisten sind vor entsprechenden Fettnäpfchen nicht gefeit:  Dass die Blocher-Interviewer auf die oben erwähnte Judenverfolgungs-Metapher des Alt-Bundesrats  nicht kritisch nachhakten ist ein Hinweis darauf, dass entsprechende Alarmglocken schlicht versagten – sofern sie denn überhaupt vorhanden waren.

Fraglich ist, ob es sich bei diesen Beispielen um Einzelfälle handelt oder ob sie Ausdruck einer relativ breit verankerten Indifferenz gegenüber den Schrecken der Nazizeit sind. Jedenfalls ist es immer wieder erstaunlich, wie die verständliche Wachsamkeit der Deutschen gegenüber Flirts mit der braunen Ideologie von der Schweiz aus als «Hysterie» abgetan wird (so geschehen zum Beispiel in den Fällen Thilo Sarrazin und Eva Hermann).

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Und es sei die Frage erlaubt, ob in unserem Schulunterricht der Auseinandersetzung mit der Nazizeit der gebührende Platz eingeräumt wird. Ich jedenfalls glaube in meinen Schuljahren mehr Zeit mit den Pfahlbauern als mit der Gestapo verbracht zu haben und die Schlacht bei Sempach nahm gefühlt mehr Raum ein, als die Schlacht bei Stalingrad.

Ob diesbezüglich tatsächlich Schweizer Eigenheiten bestehen, die für mangelnde Sensibilität im Umgang mit den Jahren 1933 bis 1945 verantwortlich sind, ist ein  Stück weit spekulativ. Weitgehend sicher scheint mir aber, dass das Zelebrieren des eigenen, von Krieg und Diktatur verschonten «Sonderfalls» sowie des eigenen Hinterwäldlertums Hand in Hand gehen mit Geschichtsvergessenheit. Eine Vergessenheit, die jenen in die Karten spielt, die die Geschichte tatsächlich umschreiben und auch unter Völkermorde einen Schlussstrich ziehen wollen.

Benjamin Rothschild beschäftigt sich tagtäglich mit Regionalpolitik und glaubt, dass sich in dieser immer wieder die grosse Politik spiegelt – und umgekehrt. Und wenn die Ebenen mal überhaupt nichts miteinander zu tun haben sollten, kann man ja trotzdem darüber schreiben.


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