nach oben

Anzeige

Musik wie aus dem Wasserhahn

Veröffentlicht am: 12.05.2019 – 09.00 Uhr

Als ich vor 15 Jahren nach Bäretswil in einen alten Flarz zog, wohnte neben mir ein Lebenskünstler. Etwa zwei Meter gross, Master in Weissdergeierwas, Physik oder so, jedenfalls ein Studium in Cambridge. Darauf war er stolz. Er hiess auch David, wie ich. David sprach mit englischem Akzent. Und er hatte sich in einer ehemaligen Telekomm-Hütte am anderen Ende des Dorfes ein kleines Musikstudio eingerichtet, weil er Musik wichtiger fand als seine Cambridge-Expertise – und glaubte, damit lasse sich Geld verdienen.

Manchmal rief er mich an – in der Stimme zitterte der Notfall mit – und brauchte dringendst meine Saxofon-, Flöten- oder Gesangskünste auf seiner jüngsten Produktion, die er gestern hätte abliefern sollen, deren Auftraggeber aber natürlich eine viel zu optimistische Deadline gesetzt hatte, zudem sei er noch beim Arzt gewesen und dann habe das Update des Aufnahmeprogramms Stunden verschlungen. Jedenfalls: «Du kannst schon in fünf Minuten, okay?» Okay.

David hatte dann vielleicht die Idee, bei einem Track einen zehnsekündigen Sax-Loop einzubauen. Ich nahm also 10 Sekunden Sax auf. Dann lehnte er sich auf seinem Drehstuhl zurück, schob seinen mächtigen Rücken hin und her, schloss die Augen und sprang plötzlich auf. «David», sagte er, «jetzt hab ich grad noch eine neue Idee. Du hast deine Whistles auch dabei oder?»

Zwei Stunden später hatten wir praktisch jeden Song mit irgendwas angereichert. Einem Knurren, einem Pfeifen, noch mehr Sax oder einer Flöte.

Ein Buch? Eine Publikation?

Und dann folgten zwei Stunden des Plauderns bei Kaffee oder Bier. Einmal erzählte er mir von einer bahnbrechenden Idee, die über die Musikwelt einfallen werde, wie die Invasion in der Normandie und an der er sich irgendwie beteiligen wolle. Eine Idee, zu der er ein Buch verfassen würde, sagte er. Oder zumindest eine wissenschaftliche Publikation.

«Musik. Wie aus dem Wasserhahn. You know?», sagte er. Ich zog eine Braue hoch. «Also Radio?» «Nein Mann. Du hörst nur noch genau die Musik, die du hören willst. Wenn du einen Song nicht willst, machst du den nächsten, simple man. Du sagst dem Internet, was du hören willst, und dann kriegst du das, egal, where you are. Unter der Dusche, im Living-Room, im Auto.» Ich lachte. Alter Fantast. Was für ein Blödsinn. «Du glaubst mir nicht», stellte er fest. Ich wiegelte ab. «Doch, doch. Also kann schon sein. Vielleicht hast du Recht. Wär ja noch gut, oder?»

Er fand das auch eine tolle Idee.

Ein halbes Jahr später gab er sein Musikstudio auf. «Let's be honest. Es lief shitty. Echt mies», sagte er mir und begann mir von einem neuen Lebensplan zu erzählen, an dessen Inhalt ich mich nicht mehr genau erinnere, aber die Musik aus dem Wasserhahn war irgendwie Teil davon. Ein paar Monate später war er weg. Ohne tschüss zu sagen. Ich sah ihn danach nie mehr.

Jahre später kam Spotify, das erste schlaue Streaming-Portal mit Musik in Hülle und Fülle. War es das, was er mit Musik wie aus dem Wasserhahn gemeint hatte? Nur: Ich konnte Spotify zunächst ja nur auf dem Computer hören. Also nicht gerade omnipräsent.

Das Handy wird zum Wasserhahn

Doch dann gings eines Tages auch auf dem Handy. Und per Bluetooth auf einer Box, egal wo. Das mobile Internet wurde schneller und machte das Handy zum Musikwasserhahn. David hatte Recht gehabt.

Und es ist gut. Dank Spotify habe ich eine Playlist für jede Stimmung – die Beach Boys, um mich in heile Welten zu flüchten, ein paar Stunden Blues gegen Frust, Mitsing-Listen oder Sound für den Roadtrip, wenn mir nach Mitsingen oder Autofahren ist.

Zu teuer oder zu billig

Doch ganz so golden, wie Spotify glänzt, ist es nicht. Eines der grössten Probleme: Die Plattform kostet 13 Stutz im Monat. Das kann man in Europa und den USA bezahlen. Doch der Streaming-Gigant muss in andere Länder vordringen, um zu wachsen, wo ein solches Pricing unbezahlbar wäre. 

In Indien läuft nun ein Versuch. Ein Spotify-Abo kostet dort gerade mal etwa 1,70 Franken im Monat. Kein Wunder, dass die Europäer sich nun mittels Tutorials indische Streaming-Accounts besorgen. Und wer leidet am Schluss? Der Musiker. Der darbt jetzt schon. Pro Stream erhält ein Künstler heute 0,006 bis 0,0084 Dollar.

Um sich einen Mindestmonatslohn von 4000 Franken bezahlen zu können, bräuchte er also fast eine halbe Million Streams pro 30 Tage. Das schafft praktisch kein Schweizer. Lo & Leduc oder Beatrice Egli machen etwa die Hälfte, als Beispiel. Und muss Spotify sein Pricing Ländern mit tieferem Bruttoinlandprodukt anpassen, wird die Ausschüttung an die Künstler noch katastrophaler.

David hatte also nur so halb Recht. Für den Nutzer ist Spotify eine tolle Sache, für den Künstler nicht. Der hat weniger Geld für Aufnahmen, also muss er länger sparen, bis er sein neues Album produzieren kann. Cambridge-David hat das frühzeitig gemerkt, sein Studio geschlossen und – wer weiss – vielleicht ein Buch über Musik aus dem Wasserhahn geschrieben.

David Kilchör bestreitet seinen Blog wie sein Leben: Ohne Plan, ohne Themenschwerpunkt. Dafür mit viel Vertrauen, dass es trotzdem gut kommt. Oder zumindest nicht im Desaster endet. Und w enn es doch im Desaster endet, macht er daraus seinen nächsten Blogeintrag.


Dieser Artikel wurde automatisch aus unseren alten Redaktionssystemen auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: servicedesk@zol.ch

Kommentar schreiben

Bitte geben Sie ein Kommentar ein.

Wir veröffentlichen Ihren Kommentar mit Ihrem Vor- und Nachnamen.
* Pflichtfeld

Anzeige

Anzeige