Eine gewichtige tragisch-komische Komponente ist dem Fall, der heute vor der zweiten Strafkammer des Zürcher Obergerichts verhandelt wurde, nicht abzusprechen: Auf der Anklagebank sass ein 52-jähriger Mann, mit dem es das Schicksal offensichtlich nicht eben gut gemeint hatte.
Der gelernte Physiklaborant hatte eigentlich eine gute Stelle als Sales Manager, verunfallte dann aber 2004 bei einem Schlittelausflug mit der Firma. Er brach sich sein zuvor schon lädiertes Handgelenk, war eineinhalb Jahre krank geschrieben und danach arbeitslos. Von seiner Frau, mit der er eine Tochter hat, trennte er sich.
Hinzu kamen gröbere Probleme mit der Justiz: 2010 wurde er vom Zürcher Geschworenengericht wegen versuchter vorsätzlicher Tötung sowie wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte zu einer Freiheitsstrafe von insgesamt sechs Jahren verurteilt. Er hatte einen Polizeibeamten angegriffen.
Wiedergewonnene Freiheit gefeiert
Nachdem er vier Jahre abgesessen hatte, wurde der Mann im Juli 2015 vorzeitig aus dem Strafvollzug entlassen. Die wieder gewonnene Freiheit feierte er sogleich bei einem Kollegen in Dübendorf – und dies feuchtfröhlich. Er habe sich «vollaufen lassen», sei «oberkantendicht» gewesen, sagte der Beschuldigte heute vor Obergericht.
Um ungefähr 22.30 Uhr, also gut zehn Stunden nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, betrat der stark alkoholisierte Beschuldigte in Dübendorf einen Bus der Verkehrsbetriebe Glattal (VBG). Ein Billet hatte er nicht, es kam zu einem Wortgefecht mit dem Chauffeur, der daraufhin zwei Polizisten avisierte. Diese versuchten, den Mann einer Personenkontrolle zu unterziehen.
Gefängnisstrafe von total 28 Monaten
Es kam zur Eskalation: Der Beschuldigte soll versucht haben, mit der Faust einen Polizisten zu schlagen und schliesslich – als er ergriffen und im «Eskort-Griff» aus dem Bus gezerrt worden war – einem Polizisten einen Tritt ans Schienbein verpasst haben. Ausserdem soll er einem Polizisten und dessen Familie mit Heimsuchung gedroht haben.
Das Bezirksgericht Uster (BGU) glaubte dieser Version der Polizisten, sprach den Mann mit Urteil vom 13. April 2017 der mehrfachen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte schuldig und schickte ihn zurück ins Gefängnis. Dort sollte er den Rest seiner Freiheitsstrafe aus dem Jahr 2010 – insgesamt 752 Tage – verbüssen. Unter Einbezug dieses Strafrests verurteilte das BGU den Beschuldigten mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von total 28 Monaten.
«Wie ein Stück Vieh»
Vor Obergericht forderten der Beschuldigte und sein Verteidiger einen Freispruch. Die Vorinstanz habe sich einseitig auf die Schilderungen der Polizisten gestützt. Der Beschuldigte habe an jenem Tag genug Notengeld auf sich gehabt und im Bus zweimal einen «ernsthaften Zahlungsversuch» für das Billet übernommen. Der Chauffeur habe sich aber offensichtlich geweigert, vom torkelnden Fahrgast das Notengeld entgegen zu nehmen. Aufgrund mangelnden Fingerspitzengefühls des Chauffeurs sei die Angelegenheit dann aus den Fugen geraten, so der Verteidiger.
Die beiden Polizisten hätten in der Folge massgeblich zur Eskalation beigetragen: Als sie auf den Beschuldigten zugekommen seien, hätten sie in provokativer Manier ihre Handschuhe ausgezogen und damit die Zeichen auf Konfrontation gestellt. Der Beschuldigte sei dann von den Beamten äusserst grob angepackt worden: Obwohl er keine heftige Gegenwehr geleistet und für alle ersichtlich eine Handgelenkschiene getragen habe, sei er «zum Gaudi der anderen Passagiere wie ein geschlachtetes Stück Vieh» aus dem Bus ins Freie geschleppt worden.
Der Verteidiger sprach in diesem Zusammenhang von einem «unrechtmässigen Angriff» der Polizisten: Denn der Beschuldigte sei der Aufforderung, sich auszuweisen, nachgekommen, er habe den Beamten seinen Ausweis der Justizvollzugsanstalt Pöschwies ausgehändigt. Die Personenkontrolle sei damit beendet, die folgende Ergreifung des Beschuldigten nicht nötig gewesen und habe deshalb auch nicht in der Amtsbefugnis der Polizisten gelegen. Der Beschuldigte habe sich somit auch nicht der Gewalt und Drohung gegen Beamte strafbar gemacht.
Dennoch verhaftet, habe der Beschuldigte seinem Frust verständlicherweise Luft verschafft. Allfällige Drohungen hätten die Polizisten aufgrund des Alkoholrausches des Beschuldigten aber nicht ernst nehmen dürfen.
Fasnachts-Polizisten?
Die Staatsanwaltschaft beurteilte den Sachverhalt und die rechtliche Würdigung erwartungsgemäss gänzlich anders: Die Amtshandlung sei mit der Identitätsfeststellung keineswegs beendet gewesen. Die Polizisten hätten den Beschuldigten völlig verständlicherweise aus dem Bus gewiesen, schliesslich sei er «kantenvoll» gewesen und mit dem Chauffeur aneinander geraten. Da er den Bus nicht freiwillig verlassen habe, hätten die Polizisten auch in der Folge richtig gehandelt.
Der versuchte Faustschlag sei auf den Videoaufnahmen der Bus-Kamera dokumentiert. Ausserdem seien die Ausführungen des Beschuldigten unglaubwürdig. In anderen Befragungen habe er zum Beispiel ausgeführt, dass er die Polizisten nicht als solche erkannt habe und gesagt, dass sich an der Fasnacht jeder mit einer Uniform einkleiden könne. «Das Ganze ereignete sich aber im Sommer, die Fasnachtszeit war längst vorbei», sagte der Staatsanwaltschaft.
Er attestierte dem Beschuldigten keine Aussicht auf Besserung und beantragte, das Urteil der Vorinstanz vollumfänglich zu bestätigen.
Wiedersehen im Bus
Das Obergericht folgte in seinem Urteil hinsichtlich Sachverhalt und rechtlicher Würdigung dem Staatsanwalt und der Vorinstanz. «Der Beschuldigte selbst hat sein Verhalten lediglich relativiert, nicht verneint», sagte der vorsitzende Richter. Das Verhalten der Polizisten sei rechtmässig gewesen. Eine Amtshandlung habe vorgelegen, der Beschuldigte habe diese mit seinem Verhalten behindert. Das Obergericht sprach ihn deshalb der mehrfachen Gewalt und Drohung gegen Beamte schuldig.
Das Tatverschulden des Beschuldigten sei jedoch lediglich leicht, die Einsatzstrafe des Bezirksgerichts Uster deutlich zu hoch gewesen. Auch habe die Vorinstanz der zwischenzeitlich positiven Entwicklung des Beschuldigten zu wenig gewichtet. Dieser komme seinen Terminen grundsätzlich nach und sei seit der verhängnisvollen Kontrolle nicht mehr straffällig geworden. Der Buschauffeur, mit welchem er aneinander geraten sei, sehe ihn in Dübendorf regelmässig und habe bestätigt, dass es zu keinerlei Vorfällen mehr gekommen sei.
Auf eine Rückversetzung in den Strafvollzug für das Urteil von 2010 verzichtete das Obergericht aus diesen Überlegungen. Zurück hinter Gitter muss der Beschuldigte, der aufgrund der fehlenden Rechtskraft des BGU-Urteils derzeit in Freiheit lebt, dennoch: Alleine für den Vorfall im Bus bestrafte das Obergericht ihn mit einer unbedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten.
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