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Lukas Golder glaubt, dass es in Städten der Region zu einer politischen Polarisierung kommen wird. (Bild: Nelly Rodriguez)

Kippt die Region nach links?

Noch sind die meisten Parlamente und Exekutiven der Region in bürgerlicher Hand. Doch wie sieht es nach den Wahlgängen vom 15. und 22. April aus? Politologe Lukas Golder glaubt, dass die zunehmende Urbanisierung des Zürcher Oberlandes und des Glattals mittelfristig den Linken in die Karten spielen wird.

Lukas Golder glaubt, dass es in Städten der Region zu einer politischen Polarisierung kommen wird. (Bild: Nelly Rodriguez)

Veröffentlicht am: 21.03.2018 – 08.30 Uhr

Die ohnehin schon starke SP legt zu, ebenso die Grünen und die Alternative Liste. Die FDP – auf den hinteren Plätzen. Die SVP – marginalisiert.

Der Linksrutsch, den die Stadt Zürich nach den Wahlen vom 4. März verzeichnete, sorgte landesweit für Schlagzeilen. Und es kam die Frage auf, ob es sich beim Stadtzürcher Wahlergebnis um den Ausdruck eines allgemeinen Trends handelte – oder um einen einmaligen Ausreisser in einer für die Schweiz untypischen Stadt, begünstigt durch die linke Mobilisierung im Zusammenhang mit der No-Billag-Initiative.

Klar ist: In den Städten des Zürcher Oberlandes und des Glattals sieht die politische Grosswetterlage zur Zeit noch anders aus. In Wetzikon und Illnau-Effretikon waren Parlament und Stadtrat in der letzten Legislatur klar bürgerlich geprägt. In Uster fielen die Mehrheitsverhältnisse im Parlament in den letzten Jahren zwar je nach Abstimmung unterschiedlich aus, doch stellten SVP und EDU die grösste Fraktion und im Stadtrat herrschte ein bürgerliches Übergewicht. In Dübendorf schliesslich warten die Sozialdemokraten seit rund 20 Jahren darauf, in der Exekutive vertreten zu sein.

Doch die Städte in der Region und deren soziale Strukturen verändern sich. In den Parlamenten geht es zunehmend auch um Wohnbaugenossenschaften, Velowege oder verkehrsberuhigte Stadtzentren. Sind das Vorboten eines neuen urbanen Lebensgefühls, das sich je länger je mehr auch politisch niederschlagen wird? Wenn ja, werden davon vor allem SP und Grüne profitieren? Kommt es im Sog der Stadt Zürich gar auch an den Wahlen im Glattal und im Zürcher Oberland vom 15. und 22. April zu einem Linksrutsch?

Im Interview versucht Lukas Golder, Politologe und Co-Leiter des Sozialforschungsinstituts GfS Bern diese Fragen zu beantworten und spricht über «Dichtestress», Ego-Hipster sowie Sinn und Unsinn von Gemeindeversammlungen. Seine Aussagen beruhen auf Erkenntnissen, die er als Forscher nicht nur im Zusammenhang mit Kleinstädten in der Region, sondern in der ganzen Schweiz gemacht hat.

Herr Golder, der Linksrutsch in der Stadt Zürich nach den letzten Wahlen sorgte landesweit für Schlagzeilen. Stellt die grösste Stadt der Schweiz ein Sonderfall dar oder könnte sie ein Modell für die Kleinstädte in der Agglomeration sein, zum Beispiel für Dübendorf, Uster oder Wetzikon?
Lukas Golder: Das Potenzial für Linksrutsche ist zur Zeit grundsätzlich vorhanden. Die Grünen fahren immer wieder Wahlsiege ein, obwohl ihre Themen im Sorgenbarometer momentan nicht zuoberst stehen. Und die SP legt an vielen Orten zu, sie versteht es, ihre Mitglieder zu mobilisieren. Das hat wohl auch mit den jüngsten Überraschungserfolgen populistischer Parteien zu tun, auf die linke Wähler an der Urne eine Antwort geben wollen. Die Linken befinden sich aktuell also grundsätzlich eher im Aufwind.

Und die zunehmende Urbanisierung ländlicher Städte spielt ihnen zusätzlich in die Karten?
Sobald an einem Ort neues städtisches Leben entsteht, eine Stadtkultur mit eigener Identität, ist das Potenzial für linke Wahlerfolge da. Bei unseren Hochrechnungen nahmen wir in der Vergangenheit jeweils die Resultate früherer Abstimmungen als Grundlage. Seit Kurzem müssen wir diese Grundlagen aus Prinzip um ein paar Prozentpunkte nach links korrigieren – wegen der Urbanisierung. Auch auf dem Land gehen immer mehr Abstimmungen im Sinne der SP aus. Es ist aber noch nicht soweit, dass man von einer eigentlichen Machtverschiebung sprechen kann.

Noch vor rund zehn Jahren wähnte man die SVP auf dem Durchmarsch zur 30-Prozent-Partei. Was Sie beschreiben geht nun in eine völlig andere Richtung. Hat der Wind tatsächlich derart gedreht?
Die SVP hat in den Agglomerationen immer noch ein riesiges Potenzial. Es kommt darauf an, von welcher Sphäre wir jeweils sprechen, wenn es um Urbanisierung und die Agglomeration geht. Sprechen wir von der Entstehung städtischen Lebens, von Kulturangeboten, von Offenheit gegenüber anderen Lebensformen oder von neuen Kaffees, dann reden wir von einer Sphäre, in der eher die Linke stark ist und in die die SVP kaum vordringt. Sprechen wir hingegen von einem ungebremsten Wachstum, von anonymer Verstädterung und ihren Problemen – hoher Ausländeranteil, «Dichtestress» –  dann sprechen wir auch von Wählerpotenzial für die SVP.

In vielen Städten in der Region Zürcher Oberland und Glattal existieren verschiedene gesellschaftliche Realitäten nebeneinander. In Uster zum Beispiel gibt es einerseits trendige Kaffees und ein eher alternatives Kino. Andererseits auch immer noch traditionelles dörfliches Leben und viele KMUs. Wie spiegelt sich das in den politischen Verhältnissen wieder?
Es ist an solchen Orten eine Polarisierung zu erwarten. Die KMUs stehen unter dem Druck des internationalen Wettbewerbs und leiden mitunter auch an verändertem Einkaufsverhalten der Konsumenten, zum Beispiel dem Bezug von Waren übers Internet. Das führt zu Abstiegssorgen. Solche Milieus pflegend deshalb eher die bewährten Strukturen und wählen bürgerlich. Auf der anderen Seiten stehen wie erwähnt jene, die urbanes Leben suchen und für die Velowege, Kinderbetreuungsangebote, günstiger Wohnraum oder der Ausbau des öffentlichen Verkehrs zuoberst auf der Agenda stehen.

Welches Lager wird sich durchsetzen?
Wo die Probleme des Wachstums Überhand nehmen, wo die Sozialkosten explodieren, die Arbeitslosenzahlen ansteigen und eine Agglomeration einfach gesichtslos wächst, werden es sicher nicht die Linken sein. Es ist aber so, dass die Schweiz insgesamt eine Globalisierungsgewinnerin ist. Banlieues gibt es hierzulande nicht, bis jetzt haben Verstädterungen eher neue Perspektiven eröffnet. Auch kleinere Gemeinden, die wachsen, investieren in Hallenbäder oder Wellnesstempel und die Lebensqualitäts-Frage rückt in den Vordergrund. Ich glaube deshalb, dass auf lange Sicht auch die Agglomeration eher nach links rücken wird.

Es gibt in der Region Gemeinden wie Volketswil, die von der Einwohnerzahl (Volketswil hat rund 18‘000 Einwohner, Anm. d. Red.) her eigentlich eine Stadt sind, die sich aber nicht als solche begreifen und auch über kein Parlament verfügen. Ein urbanes Selbstverständnis scheint es dort nicht zu geben.
Ich glaube, dass es ein urbanes Selbstverständnis auch an solchen Orten gibt, sich dies auf politischer Ebene aber noch nicht niedergeschlagen hat. In einer Gemeinde mit 18‘000 Einwohner kennt man sich eigentlich nicht mehr, einige tun aber jeweils so, als sei dies noch der Fall. Jene, die schon immer ihre Geschäfte dort hatten, die von früher her gut vernetzt sind – diese Leute versuchen ihre Strukturen zu verteidigen.

Und wenn sich diese Leute für eine Beibehaltung der Gemeindeversammlung einsetzen wäre dies ein Versuch, ihre Hegemonie in der Gemeinde zu wahren?
Es ist auf jeden Fall Ausdruck eines Festhaltens an historisch-gewachsenen Strukturen. Was die Gemeindeversammlungen betrifft, so sind diese aus demokratiepolitischer Sicht spätestens dann nicht mehr opportun, wenn einmal an einer Versammlung weniger als ein Prozent der Bevölkerung vertreten sein sollte. Bei 18‘000 Einwohnern wäre die rote Linie somit erreicht, wenn weniger als 180 Personen erscheinen.

Ein Sonderfall in der Region ist die Stadt Dübendorf: Sie ist die einzige Stadt in der Schweiz mit über 20‘000 Einwohnern, in der die SP seit rund 20 Jahren nicht in der Exekutive vertreten ist. Wie erklären Sie sich das?
In Dübendorf wäre das Potenzial für linke Parteien sicher vorhanden, wenn man sich die zahlreichen Grossprojekte, unter ihnen den Innovationspark, vor Augen führt. Da entstehen in den nächsten Jahren neue Formen von Urbanität und neue Berufsbilder, die kaum der SVP Zuwachs bescheren dürften. Weshalb sich diese Entwicklung bislang nicht auf der politischen Ebene niedergeschlagen hat, kann ich nicht beurteilen. Das kann mit den Strukturen in der Gemeinde zusammenhängen, mit der Geschichte – oder mit der örtlichen Sektion. Ganz allgemein ist politisches Engagement auf lokaler Ebene unglaublich aufwändig und immer weniger ertragsreich. Die Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, haben ab-, die Anforderungen zugenommen. Ebenso die Gefahr, auf der Strasse oder in den neuen Medien angepöbelt zu werden.

In Uster würde jüngst die Initiative zum Schutz des Waldes angenommen. Allein die Grünen waren dafür, alle anderen Parteien dagegen. War das ein einmaliger Überraschungscoup oder ein Zeichen dafür, dass die Grünen in der Region allgemein zulegen werden?
Landschaftsschutz ist in der Tat ein Thema, das über die Parteigrenzen hinweg attraktiv ist. Aber ich finde es bezeichnend, dass die Grünen in einer Stadt wie Uster überhaupt eine derartige Initiative lancieren können. Das zeigt, dass Themen wie Grünflächen und Naherholung auch für die Bürgerlichen wichtig werden sollten. Denn das Selbstverständnis der Agglo-Bewohner ist heute ein anderes, als vor 20 Jahren. Das Versprechen auf freie Parkplätze reicht nicht mehr, um Wähler zu gewinnen.

In Uster stehen sich beim Kampf ums Stadtpräsidium derzeit ein Freisinniger und eine Sozialdemokratin gegenüber und auch in Dübendorf und Wetzikon bewerben sich Kandidaten verschiedener Parteien um dieses Amt. Ist eine solche Wahl eine politische Weichenstellung für eine Gemeinde oder hat sie primär symbolische Bedeutung?
Ich glaube schon, dass es eine Rolle spielt, ob ein Freisinniger oder eine Sozialdemokratin eine Gemeinde präsidiert. Das Arbeitspensum eines Stadtpräsidenten ist meist höher als jenes eines gewöhnlichen Stadtrates, das kann zu einem Wissens- oder Einflussvorsprung führen. Ein starker Stadtpräsident kann wichtige Weichen stellen und Schwerpunkte setzen. Und er ist das Gesicht einer Stadt oder einer Gemeinde.

Gerade in Uster ist die Urbanisierung ein grosses Thema, bis 2035 soll die Stadt um 7000 Einwohner anwachsen. Kann Urbanisierung auf rechte oder auf linke Art vorangetrieben werden?
Die Schemen links-rechts mögen in den Köpfen gut funktionieren, doch das, was hinter den Begriffen steckt, wandelt sich ständig. Die Politik einer SVP ist sicher eher bürgerlich-konservativ, also rechts. Die grosse Frage ist für mich aber, weshalb die SP für die urbanen Leute von heute ein derart attraktives Angebot darstellt. Denn eigentlich handelt es sich bei diesen Leuten um so genannte Ego-Taktiker oder Service-Public-Surfer. Es geht ihnen darum, den optimalen Mix für ihr eigenes Leben zusammenzustellen: Das Krippenangebot soll in «ihrer» Stadt quasi gratis sein, es soll ein Kulturangebot geben, Kaffees und Co-Working-Spaces. Das urbane Leben, das diese Leute wollen, ist ein Leben «on demand».

Welche Partei würde denn zu diesen Leuten passen?
Wohl eher die Grünliberalen. Die SP hingegen hat sich ja eigentlich die soziale Frage auf die Fahne geschrieben. Ihr Programm sieht Leistungen für Bedürftige und Umverteilungsmechanismen vor. Gesellschaftliche Solidarität ist aber nicht unbedingt das, was den urbanen Ego-Taktikern entspricht. Diese sind oft Unternehmer ihrer selbst, wollen ihren eigenen Weg gehen und sich beruflich nicht binden. Und sie sind nicht besonders scharf darauf, Steuern zu zahlen. Sie wollen in den Kleinstädten, in denen sie wohnen, Urbanität, aber sobald das Hallenbad steht, der ÖV ausgebaut und der Innovationspark mit öffentlichen Geldern in Betrieb ist, werden sie zu Bewahrern. Das alles ist im Grundsatz eher rechts.

Sind umgekehrt die traditionellen Dorfvereine – der Frauenverein, die Stadtjodler oder die Schützen – von ihrem Wesen her eher links? Schliesslich wird dort noch ein gesellschaftlicher Zusammenhalt gepflegt.
Links wäre wohl arg überspitzt formuliert. Aber diese Vereine sind die alten zivilgesellschaftlichen Kitt-Elemente, die nun an vielen Orten weg brechen. Der derzeitige Megatrend ist die Individualisierung, die zwar unabhängig von der Urbanisierung ein Thema ist, durch die Urbanisierung aber vorangetrieben wird. Und Individualisierung kann kaum als links bezeichnet werden. Interessant wäre es, wenn in den Agglomerationen die Ausländer plötzlich ein Stimmrecht erhielten. Denn von ihnen arbeiten viele im Niedriglohnsektor und die SP müsste sich dann angesichts einer neuen Wählerschicht entscheiden, ob sie sich eher an die Hipster oder an die Unterprivilegierten richten will.

Was ist mit jenen Leuten, die sich die Mieten in den grösseren Städten nicht mehr leisten können und die deshalb in Kleinstädte in der Agglomeration ziehen? Wählen die aus Protest eher bürgerlich, weil sie ja aus den links regierten Grossstädten vertrieben wurden oder bringen sie das städtische Lebensgefühl aufs Land mit?
Ich glaube, dass solche Leute in der Regel die Urbanität suchen. Und wenn sie sich diese nicht leisten können, dann bauen sie sie an den Orten mit auf, an welchen sie sich niederlassen. Indem sie zum Beispiel ein Kaffee oder ein Kino eröffnen oder solche Angebote zumindest nutzen. Diese Leute sind auch nicht die häufig genannten «Globalisierungsverlierer». Denn sie kommen mit den neuen Strukturen und den neuen Medien klar. Und wenn sie zum Beispiel in Dübendorf weniger Miete zahlen, verwenden sie das auf diese Weise Gesparte für einen dreimonatigen Thailand-Aufenthalt.

Die Stadt Wetzikon liegt fünf Zug-Minuten weiter von Zürich entfernt als die Stadt Uster. Hat dies Auswirkungen auf die politischen Kraftverhältnisse an den jeweiligen Orten?
Für diejenigen, die von Zürich weg ziehen wollen, mag die Entfernung eine Rolle spielen. Aber ich denke, dass die Geschichte und die Identität eines Ortes den grösseren Einfluss auf dessen politische Prägung haben. Diese Faktoren spielen auch für Wohnungssuchende eine grosse Rolle. Diese begrenzen ihre Suche meist nicht mit dem Lineal oder der Stoppuhr, sondern nach anderen Kriterien. Das Image von Ländern, Kantone, Städten hält sich oft hartnäckig und ändert sich nicht einfach über Nacht. Das Sechseläuten ist aus der Stadt Zürich schliesslich auch nicht verschwunden, obschon sie seit Jahrzehnten sozialdemokratisch regiert wird.

Lukas Golder und das GfS Bern

Lukas Golder (43) ist Co-Leiter der Gesellschaft für Sozialforschung Bern (GfS Bern), ein privates Institut zur angewandten Forschung in den Bereichen Politik und Kommunikation. Das GfS Bern bietet Forschungsdienstleistungen wie Hochrechnungen, Umfragen oder Analysen an. Es beschäftigt 13 Mitarbeitende. Der Politologe Golder arbeitet in Bern und lebt in Solothurn (17‘000 Einwohner). (bro)


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