nach oben

Anzeige

Ersatzsucht: Ich stopfe das Loch, das die Zigaretten hinterlassen haben, zurzeit mit Schokolade in allen Formen. (Bild: Seraina Boner)

Zigarette im Kopf, Schokolade im Mund

Akuter Rauchstopp ohne Hilfsmittel: Diesem Selbstversuch hat sich unser Autor ausgesetzt – und darüber fast die Steuererklärung vergessen.

Ersatzsucht: Ich stopfe das Loch, das die Zigaretten hinterlassen haben, zurzeit mit Schokolade in allen Formen. (Bild: Seraina Boner)

Veröffentlicht am: 08.09.2016 – 19.43 Uhr

Irgendetwas fehlt. Ich bin nicht ich selbst. Ich funktioniere zwar normal, aber die Perspektive stimmt nicht. Es hängt ein feiner Schleier vor meiner Wahrnehmung. Und etwas nagt permanent in meinem Hinterkopf, wie der Gedanke an die Steuererklärung, die man schon verlängert und nach abgelaufenem Verschiebedatum immer noch nicht erledigt hat. Nur ist das Gefühl stärker und permanent.

Ich befinde mich am Montagmittag, 29. August, seit gut fünf Stunden in meinem bisher schwierigsten Selbstexperiment – dem akuten Rauchstopp ohne Hilfsmittel. Ich sitze nach ausgiebigem Mittagessen am Tisch mit Arbeitskollegen, weiss nicht, was ich sagen, was ich mit meinen Händen tun soll. Kann nur an Zigaretten denken, solche, wie sie sich die Kollegen rund um mich der Reihe nach anzünden. Es kommt mir so vor, als würden heute alle rauchen.

Bereits an diesem Morgen, kurz nach dem Aufstehen, kommt der erste nervöse Moment, mein morgendliches Ritual wird aus der Ruhe gebracht. Seit Jahren stehe ich auf, hole meine Zahnbürste, schlurfe wie ein Zombie Zähne putzend zur Kaffeemaschine, schalte sie ein, schlurfe hin und her. Bis ich nach gut zehn Minuten geduscht habe, angezogen bin und mit doppeltem extrastarkem Kaffee in der Hand auf dem Balkon stehe, die Zigarette in der Hand. Ich setze mich stattdessen aufs Sofa, unsicher und nervös, will den Fernseher einschalten – viel zu wenig Zeit. Ich studiere das Sofapolster – sieht nicht mehr so neu aus wie auch schon. Blicke ungeduldig auf die Uhr und schlürfe abwesend meinen Kaffee. Bereits die erste Viertelstunde meiner rauchfreien Zeit wird zum psychischen Test.

Die nächsten Tests lassen nicht lange auf sich warten; mein morgendliches Ritual war perfekt auf die Minute auf meinen Zug abgestimmt. Ich bin wegen der fehlenden Morgenzigarette fünf Minuten zu früh am Bahnhof, macht ja nichts, das passt perfekt, um eine zu …

Der Tag ist voll von «Jetzt würde ich normalerweise rauchen»-Momenten; Kaffeepause um 10 Uhr – vorsichtshalber verzichte ich auf diese –, die erste hektische Situation, die beschriebene Mittagspause auf der Terrasse. Gegen Abend wird es nicht besser.

Ich wache am Dienstag mit einem unguten Gefühl auf. Ich habe mindestens dreimal in dieser Nacht davon geträumt, wie ich glücklich am Glimmstängel ziehe, wie die Glut hellorange aufleuchtet, sich meine Lunge mit dem berauschenden, beruhigenden Rauch füllt und ich eine blassblaue Wolke ausatme, zusammen mit dem entspannenden Gefühl, das sich in meinem Körper breitmacht. Ich brauche eine Motivation. Mit doppeltem starkem Kaffee im Schlepptau setze ich mich an den Laptop.

Ich habe eine Hochrechnung gemacht: Seit gut zwölf Jahren rauche ich, anfangs für Fr. 4.50 pro Parisienne, heute für Fr. 8.10 pro Winston. Ich rechne mit 200 Tagen – etwas mehr als ein Päckchen alle zwei Tage im Durchschnitt – mal zwölf Jahre bei durchschnittlich Fr. 6.50 pro Päckchen. 15 600 Franken. «Holy…», fluche ich laut vor mich hin. Ich google Autos. Für den Porsche reicht es nicht, dennoch hätte ich mir einen kleinen, schicken Neuwagen leisten können. Ich versuche, mir selbst gut zuzureden. Vermutlich hätte ich das Geld sowieso für andere ebenfalls vergängliche Dinge ausgegeben.

Ich frage mich, wie ich mir die Zigaretten damals als Gymi-Schüler leisten konnte. Ich erinnere mich wage an die Mittag­essen, als von meinen ursprünglichen 10 Franken Essensgeld nach Abzug des Zigi-Päckli nur noch die Hälfte übrig war.

Fr. 2.80 gingen für den Kaffee drauf – der in der 10-Uhr-Pause einfach zur Zigarette dazugehörte. Übrig blieben Fr. 2.20 für einen Migros-Eistee und ein oder zwei Weggli. Etwas beschämt erinnere ich mich auch, wie ich damals in fast jeder zehnminütigen Pause aus dem vierten Stock runtergerannt bin, um mit den anderen Rauchern abzuhängen. Wie cool wir uns gefühlt haben, wenn sich die Mitschüler durch unsere Rauchwolke in den Schuleingang gezwängt haben.

Auch der Traum in der Nacht auf Mittwoch drehte sich hauptsächlich ums Rauchen. Diesmal war er so realistisch, dass ich mich im ersten Moment aufrege und nicht genau weiss, ob ich nun immer noch Nichtraucher bin oder ob es mich schon wieder erwischt hat. Ich rieche an meiner rechten Hand und stelle beruhigt fest, dass ich auch am dritten Tag noch rauchfrei bin.

Der Tag verläuft einigermassen vernünftig. Ich habe mich bereits ein wenig an die Entwöhnung gewöhnt. Ich bin allerdings nicht so umgänglich wie sonst. Kritiken von Arbeitskollegen wirken viel persönlicher, meine Antworten sind gereizter.

Abends im Fussballtraining be­schliesse ich deshalb, gar nichts zu sagen, auf dem Platz bin ich sowieso schon wesentlich lauter und unangenehmer als im Alltag. Während des Trainings fällt mir auf, dass der Keuchhusten fehlt. So früh schon die erste gesundheitliche Verbesserung? Hängt wohl eher mit der ausgefallenen Zigarette unmittelbar vor dem Training oder mit psychologischen Gründen zusammen.

Ich frage mich, wie ich mich auf dem Platz bewegen würde, wenn ich nie geraucht hätte, nie Raucherhusten gehabt hätte. Ich lege fest, dass ich – mit oder ohne Rauchen, auch mit ein bisschen oder ein bisschen viel mehr Kondition – sowieso das Maximum aus meinen begrenzten technischen Fähigkeiten herausgeholt habe und ich in der 2. Liga gut aufgehoben bin. Ausserdem gefällt es mir im Dorfverein.

Mit Rauchen abnehmen. Eine gute Ausrede für viele ist, munter weiter zu rauchen: «Sonst werde ich nur dick.» In der Realität aber tatsächlich zutreffend, zumindest umgekehrt. Ich habe meinen Hunger am Donnerstagmorgen wiedergefunden und esse, vermutlich nach mehreren Jahren zum ersten Mal, allein Frühstück. Ich ertappe mich auch tagsüber, wie ich oft kleine Snacks einbaue, an Stellen, wo mir sonst Zigaretten den Appetit verdorben hätten. Vor allem abends stürze ich Schokolade und Milch tafel- und literweise herunter.

Ich kann es mir leisten, ich treibe regelmässig Sport. Ausserdem habe ich mit dem Rauchstopp in den letzten Tagen auch auf diverse Süssgetränke, Kaffees und Biere, die ich normalerweise mit Zigaretten kombi­niere, verzichtet und diese mit Wasser ersetzt. Ich lebe trotz übermässigem Schokoladenkonsum gesünder.

Gerade als die Nervosität und die Unruhe langsam dem Optimismus zu weichen scheinen, kommt die härteste Prüfung: das Wochenende. Ich erinnere mich an vergangene Aufhörversuche, die meisten haben im Ausgang geendet. Zudem ist Open-Air-Wochenende in Greifensee, ein dickes Ausrufezeichen im Kalender und Ausrede für übermässigen Konsum vieler Arten. Den Freitagabend überlebe ich ohne grössere Schwierigkeiten, ich muss sowieso früh ins Bett, am nächsten Tag steht mit dem Medien-Cup und einem Ligaspiel doppelt Fussball an.

Am Samstagabend werde ich weich. Nach genügend Bier und zweifachem Sieg tagsüber entschliesse ich spontan, mir eine Siegeszigarette zu gönnen – endlich eine Ausrede, die stärker ist als mein Schuldgefühl. Es folgen im Verlauf des Abends mehrere Zigaretten, gesponsert von Kollegen der Gattung «Hab es ja gewusst, dass du es nicht durchziehst». Ich geniesse es.

Der Sonntag beginnt in der Tat grauenhaft. Am wenigsten vermisst habe ich in der letzten ­Woche den Rauchgeschmack in Mund und Rachen beim Aufwachen. Zudem plagen mich mein Gewissen und vor allem die Ungewissheit, ob ich jetzt am Vorabend eine Woche Leiden vor die Hunde geschmissen habe. Ich stehe kurz davor, zur Tankstelle zu fahren und Zigaretten zu kaufen und am Montag nach nur einer Woche allen Eingeweihten reumütig zu erklären, dass ich es nicht geschafft habe.

Teils aus Scham, vor allem aber weil ich ein schlechter Verlierer bin und schon immer war, entschliesse ich mich, den groben Ausrutscher, der Lust auf mehr gemacht hat, zu ignorieren und weiterzumachen. Und bin erstaunt, wie leicht mir das Nichtrauchen in den folgenden Tagen trotz allem fällt. Am Donnerstag, nach genau zehn Tagen, habe ich das erste Mal das Gefühl, das Schwierigste überstanden zu haben. Als Vorbeugung gegen erneute Ausrutscher plane ich euphorisch eine zweitägige Wanderung in den Alpen fürs Wochenende. Mit Freundin und Kollegen, alle Nichtraucher, Kilometer entfernt von der nächsten Zigarette. Die Steuererklärung mache ich dann am Montag.


Dieser Artikel wurde automatisch aus unseren alten Redaktionssystemen auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: servicedesk@zol.ch

Kommentar schreiben

Bitte geben Sie ein Kommentar ein.

Wir veröffentlichen Ihren Kommentar mit Ihrem Vor- und Nachnamen.
* Pflichtfeld

Anzeige

Anzeige