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Der Ustermer Reinhard Schmid musste viele Jahre mit den Sekten kämpfen. Trotzdem hat er sich der Religion im Ganzen nie verschlossen. (Bild: Nathalie Guinand)

Wenn der Partner der Sekte verfällt

Reinhard Schmids Frau schloss sich mit dem gemeinsamen Baby einer Sekte an. Als der Ustermer dagegen kämpfte, sah er sich mit einer Serie von Angriffen und Sachbeschädigungen seitens der Religionsgemeinschaft konfrontiert. Heute ist er Präsident des Ustermer Vereins «Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für destruktive Kulte», der dieses Jahr 30 Jahre alt wird.

Der Ustermer Reinhard Schmid musste viele Jahre mit den Sekten kämpfen. Trotzdem hat er sich der Religion im Ganzen nie verschlossen. (Bild: Nathalie Guinand)

Veröffentlicht am: 19.06.2018 – 14.33 Uhr

Der Ustermer Reinhard Schmid wirkt nicht wie ein geschniegelter Berater, eher wie ein Althippie. Locker und freundlich sitzt er mit seinen zusammengebundenen weissen Haaren, dem Schlabber-Shirt und seiner Militärkappe im Garten und bietet Getränke an. Schmid ist seit 15 Jahren Präsident der SADK, der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft gegen destruktive Kulte (siehe Box). Die Selbsthilfegruppe, in der Angehörige von Sektenmitgliedern Hilfe finden, feiert dieses Jahr ihr 30-jähriges Bestehen.

«Destruktiv ist ein Kult dann, wenn er das Geld oder das Umfeld der Mitglieder auffrisst», erklärt Schmid den umständlichen Namen der Arbeitsgemeinschaft. Er präzisiert: «Destruktiv, weil sich das Leben des Kultanhängers durch die Zugehörigkeit verschlechtert, etwa, weil er sich verschuldet, der Kontakt zu Freunden abbricht oder er unter psychischem Druck steht.»

Steter Tropfen auf der Stirn

Auch Schmid kam einst als Hilfesuchender zur SADK. Seine damalige Frau hatte sich der St. Michaels Vereinigung in Dozwil (TG) angeschlossen. «Vom einen zum anderen Tag war sie komplett verändert. Sie trank keinen Wein, ass keinen Käse mehr und war auch sonst ganz anders. Sie hatte dann schnell auch einen Partner innerhalb der Sekte», erzählt der ehemalige Jugendarbeiter. Lange habe er versucht, den Dialog mit seiner Frau aufrecht zu halten. Doch sie und die Sekte hätten ihn mit einer regelrechten Zermürbungstaktik fertiggemacht. «Die Sekte versuchte, mich zu vereinnahmen und redete auf mich ein. Sie rieten mir sogar von wichtigen Arztbesuchen ab.»

Meine Frau griff mich im Laufe der Jahre mehrmals an. Jemand durchstach mehr als 100 Mal meine Autoreifen, leitete Wasser in meinen Keller, schmiss Fensterscheiben ein und so weiter», erzählt der 59-jährige. «Mein Anwalt riet mir davon ab, zur Polizei zu gehen, weil damit meine Glaubwürdigkeit beeinträchtigt würde. So wurde auch nie untersucht, wer die Sachbeschädigungen begangen hat. Ich bin froh, dass diese mit der Volljährigkeit meiner Tochter aufgehört haben.»

Es sei wie bei jener berüchtigten Foltermethode; die steten Tropfen auf der Stirn. «Einer macht einem nichts aus, doch die ständige Wiederholung, die treibt einen in den Wahnsinn.»

Kommunikation aufrecht erhalten

Das Schlimmste sei die Hilflosigkeit gewesen, so Schmid. Das sei für Aussenstehende schwierig zu verstehen gewesen, aber er habe seine Frau nicht aufgeben wollen. Er habe sie ja noch geliebt. Zudem wollte er, dass seine Tochter mit beiden Elternteilen aufwächst.

Durch einen Bekannten hörte er von der SADK. Verzweifelt wandte er sich an die Arbeitsgesellschaft. Diese empfiehlt ihm und anderen Betroffenen, die Kommunikation zu den Angehörigen in der Sekte aufrecht zu halten. Das erhöhe die Chance, geliebte Menschen dort auch wieder herauszubekommen. Schmid hat dies versucht. Vermutlich sogar etwas zu sehr.

«Ich bin Anfangs zu den Treffen mitgegangen», sagt er. «Ich wollte herausfinden, was meine Frau daran faszinierte.» Für die Botschaften sei er aber nie empfänglich gewesen. «Das Beten dauerte mir zu lange und die Lehren liessen mir zu viele Fragen offen.» Mit seiner Anwesenheit und dem Kontakt habe er der Gruppe aber seine Schwächen offenbart, die diese später ausgenutzt habe. Die SADK rät aber generell davon ab, an solchen Treffen teilzunehmen.

Kampf um Tochter

Gekämpft habe er vor allem wegen seiner Tochter, die damals noch ein Baby war. «Meine Frau nahm sie mit an die Gottesdienste. Die Vereinigung plante das Kind nach ihren Bräuchen zu taufen. Es ist für die Frauen eine grosse Ehre, dem männlichen religiösen Oberhaupt ein kleines Mädchen in die Sekte zu geben.» Schmid schaltet einen Anwalt ein. Denn seine Exfrau wollte von einem alleinigen Sorgerecht für den Vater nichts wissen. Die Gerichtsverhandlungen zogen sich hin. Zwei Meter Bücherregal nehmen Schmid‘s Gerichtsordner mittlerweile ein.

Schlussendlich entschied das Gericht zu Schmid‘s Gunsten. Er bekam das Sorgerecht für seine Tochter und die Exfrau durfte diese nicht mehr an die Gottesdienste mitnehmen. Es sei seines Wissens nach der erste Sorgerechtsentscheid der Schweiz gewesen, der aufgrund von Sektenverstrickungen ohne die Unterschrift der Frau gültig war. «Das religiöse Umfeld der Beklagten weckt Bedenken an einer uneingeschränkten freien Entwicklung des Kindes und lässt das Kindeswohl als gefährdet erscheinen», so habe es das zuständige Gericht seiner Erinnerung nach formuliert.

Der jahrelange Kampf hat bei Schmid Spuren hinterlassen: Finanziell habe er lange Zeit unter dem Existenzminimum leben müssen, weil seine Exfrau keine Alimente zahlen konnte und wollte. Sie lebt und arbeitet bis heute ehrenamtlich bei der Vereinigung in Dozwil. Auch gesundheitlich trägt Schmid Folgen, die er den «Attacken» der Sekte zuschreibt. Wegen der Burnout-ähnlichen Gesundheitsprobleme arbeitet er auch nicht mehr in seinem Beruf: als Jugendarbeiter im Freizeit- und Jugendzentrum (Frjz). Nach wie vor hat er aber zu vielen Frjz-Jugendlichen, die mittlerweile Erwachsen sind, guten Kontakt, interessiert sich für deren Leben und hilft ab und zu bei einem Problem.

Seine Tochter, die heute 25 Jahre alt ist, sei froh, dass er sie aus der Dozwiler Religionsgemeinschaft herausgeholt habe. Zu ihrer Mutter habe sie noch Kontakt, das sei Schmid immer ein Anliegen gewesen. Mit ihrem Sektenpartner habe seine Exfrau mittlerweile auch ein Kind bekommen. An ihrer kleinen Halbschwester könne seine Tochter sehen, wie es ist, innerhalb der St. Michaels Vereinigung aufzuwachsen. Sie habe Mitleid mit ihrer Halbschwester, sagt Schmid. «Mit diesem armen Hagel.» Das hätte auch ihr Leben sein können.

Zeigen, dass man nicht verrückt ist

Während dem Kampf gegen die St. Michaelsvereinigung sei die SADK eine grosse Hilfe gewesen, sagt Schmid. «Das Wichtigste war, zu merken, dass ich nicht verrückt bin. Solche Geschichten glaubt einem keiner, der nicht Ähnliches erlebt hat. Durch die Arbeitsgruppe bekam ich Kontakt zu anderen Betroffenen.»

Einige Jahre später sei der Verein dann vor der Auflösung gestanden. Die Mitgliederzahlen waren gesunken und den grössten Teil der Beratungsarbeit übernahm ohnehin längst die Beratungsstelle Infosekta (siehe Box). «Ich denke, dass viele Mitglieder nach Überwindung ihrer Sektenverstrickung nicht mehr durch neue Betroffene ständig daran erinnert werden wollten», sagt Schmid. Als die damalige Präsidentin schliesslich auch ihr Amt abgab, fand sich kein Nachfolger.

«Ich hatte der Arbeitsgesellschaft so viel zu verdanken», sagt Schmid. «Deshalb übernahm ich das Präsidentenamt kurzerhand.» Dort kümmert er sich heute vor allem um den Vertrieb der Fachliteratur und um die Weiterleitung von Betroffenen. Zudem organisiert er die Zusammenarbeit der SADK mit den europäischen Partnerorganisationen.

Religionen können eine Stütze sein

Der zeitliche Abstand zu den Ereignissen und die langjährige Beschäftigung mit religiösen Gruppen haben Schmid inzwischen milder gestimmt. «Ich bin nicht mehr so radikal wie früher. Wenn jemand in einer Sekte glücklich ist und dies sein Leben nicht zerstört, dann bin ich froh für ihn.» Er sehe mittlerweile ein, dass Religionsgemeinschaften auch eine Stütze sein können.

Selbst religiös sei Schmid aber nicht. «Aber ich habe mich den verschiedenen Religionen auch nie verschlossen. Ich reiste früher viel. Wenn ich in Afrika war, war ich Muslim, in Asien Buddhist.»

 

SADK

Die Schweizerische Arbeitsgesellschaft gegen destruktive Kulte (SADK) gibt es nun seit 30 Jahren. Sie wurde von Angehörigen von Sektenmitgliedern zur Selbsthilfe gegründet. Je nach Fall vermittelt die Stelle einen Anwalt oder Psychologen, meist konzentriert sich die Arbeit aber auf Beratung und Vernetzung zwischen Betroffenen. Als die Anfragen immer mehr wurden, wurde die Infosekta, die Fachstelle für Sektenfragen, gemeinsam mit anderen Akteuren wie dem Beobachter, der Universität Zürich und Pro Juventute gegründet.

Seither vermittelt die SADK viele Hilfesuchende an die Fachstelle weiter. Die meisten Anfragen bekäme die Arbeitsgemeinschaft wegen Scientology und den Zeugen Jehovas. Betroffene, die Unterstützung wünschen, können sich unter  sadk@gmx.ch bei der Arbeitsgemeinschaft melden oder unter www.infosekta.ch informieren.

St. Michaels Vereinigung

Bei der St. Michaels Vereinigung handelt es sich laut relinfo.ch um eine Freikirche mit gnostischem und reinkarnativem Gedankengut, die grossen Wert auf eine frühkirchlich-symbolhafte Inszenierung legt. Sie wurde unter anderem von Paul Kuhn (1920–2002) gegründet, der sich als Reinkarnation des Apostels Paulus sah. Für erheblichen öffentlichen Wirbel sorgte die Gemeinschaft, als Kuhn apokalyptische Offenbarungen veröffentlichte. Nach mehreren kontroversen Artikeln im Blick kam es im Mai 1988 zu Ausschreitungen gegen die St. Michaelsvereinigung.

Im Oktober 1989 verkündeten die Deutschschweizer Bischöfe, dass sich die Anhänger der St. Michaelsvereinigung zwischen der Freikirche und der offiziellen entscheiden müssten. In einer etwa 2000 Personen fassenden Kirche in Dozwil zelebriert die St. Michaelsvereinigung regelmässig Gottesdienste mit Predigt und Messfeier. Die Vereinigung wird auf 3000 Anhänger geschätzt. Mitgliedschaft und Abgaben gibt es nicht. Die St. Michaelskirche wird von freiwilligen Spenden sowie einer Kollekte finanziert.


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